Susan im Bett - kultur 84 - März 2012

Susan im Bett von Karel Vanek in der Brotfabrik – Tanz hinter dem Traumspiegel

„Statt einer Hermeneutik brauchen wir eine Erotik der Kunst“, forderte die amerikanische Philosophin und Feministin Susan Sontag (1933 – 2004). Ihr 1991 am Schauspiel Bonn uraufgeführtes Stück Alice im Bett widmete sie Alice James (1847 – 1892), der hoch intelligenten Schwester des amerikanischen Dichters Henry James, die sich als junge Frau – körperlich völlig gesund – in ihr Bett zurück­zog und nicht wieder aufstand. Eine bewuss­te Selbstzerstörung durch die Abwendung vom als unmöglich empfundenen Leben. Eine Auslöschung des Körpers im inneren Exil, das schon zum Kraftfeld des Todes gehört.
Hysterie verbreitete sich epidemieartig unter den intellektuellen Frauen des 19.Jahrhunderts, die ihre weibliche Identität überschreiten wollten. Im individualistischen 21.Jahrhundert greift geschlechterübergreifend das „Cocooning“ um sich, der Rückzug ins radikal Private. Eine Selbstdekonstruktion, die Ich und Außenwelt imaginiert, die aktive Teilnahme jedoch verweigert.
In seinem neuen Tanzstück Susan im Bett versetzt der Choreograph Karel Van?k seine vier Tänzer quasi in die REM-Phase des Schlafes, also die durch schnelle Augenbewegungen (rapid eye mouvements) gekennzeichnete paradoxe Situation der deutungslosen Realitätsverarbeitung. Gegen die optisch dominanten, streng vertikalen Lichtstreifen (Bühne: Frank Chamier, Licht: Markus Becker) setzen sie die Horizontale der Bewegung. Sie wälzen sich wachträumend auf dem Boden, klammern sich paarweise aneinander, suchen aggressiv und zärtlich die Nähe des anderen, tauchen vereinzelt in magische Welten hinter den Spiegeln ihrer imaginierten Weltmatrix ab. Susan Sontags Albtraum von Alice im Bett-Wunderland bleibt dabei rätselhaft undramatisch.
Bärbel Stenzenberger, Olaf Reinecke, Eric Trottier und Erika Winkler entwerfen eine tänzerisch originelle Hieroglyphenschrift des liegenden und stehenden Körpers, der sich zwischen Bewusstsein und Lebensverstörung abschottet. Es gibt irrwitzig temporeiche Passagen, abstruse Gliederverknotungen, skurrile Duette und Solos – Stenzenberger taucht z.B. als einsam jaulendes Wolfskind auf – und gespenstische Vernunftschlaf-Sequenzen. Die Performance hat keine narrative Logik, sondern folgt spielerisch einem musikalisch suggestiven Traumrhythmus.
Das Bett als Ort der Ruhe, der Liebe und des Sterbens bleibt unsichtbar. Es ist ein Raum der ungelösten Innenschau und existenziellen Desorientierung, die Schattenbilder als Wirklichkeit begreift oder frei flottierende geistige Energie als empfindliche Nachtseite des Intellekts. Susan im Bett verweigert sich rationalen Aussagen. „Ich mag, was ich kriege, oder ich kriege, was ich mag“, tönt es schön widersprüchlich aus dem Hintergrund zu diesem choreographischen Essay über die Figuration des Irrealen. Sontag lehnte die Vorstellung ab, dass Kunst mit ihrem Inhalt identisch sei. Interpretation sei im Wortsinn reaktionär und vergifte die sensuelle Begabung. „Interpretation ist die Rache des Intellekts an der Kunst“, gehört zu ihren besten Sentenzen. Mitdenken darf man trotzdem, wenn Susan im Bett der romantischen Traumtänzerei einen sehr speziellen erotischen Abschiedsgruß gönnt. E.E.-K.

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Spieldauer ca. 70 Minuten, keine Pause
Die nächsten Termine:
23.03.12 // 24.03.12 // 13.04.12 // 14.04.12

Donnerstag, 11.10.2012

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