Heute: Kohlhaas (nach Heinrich von Kleist) - kultur 83 - Februar 2012

"Heute: Kohlhaas" nach Heinrich von Kleist im Theater Marabu – Recht und Reisswolf

Heute spielen sie mal Kohlhaas. Eine muntere Gauklertruppe präsentiert die alte Geschichte vom braven brandenburgischen Rosshändler, der um die Mitte des 16.Jahrhunderts ehrlich seinen Geschäften nachging, vom Junker Wenzel von Tronka betrogen wurde, sein Recht einforderte, Unrecht erfuhr und dagegen gewaltsam rebellierte. Kleists berühmte Geschichte von Michael Kohlhaas wird in der Inszenierung von Claus Overkamp mit viel Musik volkstümlich und unterhaltsam erzählt. Die Koproduktion zwischen dem Bonner Theater Marabu und dem seit langem eng verbundenen belgischen Agora Theater aus St. Vith entwickelt aus dem scheinbar schlichten Jahrmarktstheater eine aberwitzige Groteske über Willkür und Widerstand.
Kleists chronikartiger, nüchterner Berichtsprache steht der Bänkelsangton von Gedichten des anarchistischen Schriftstellers Erich Mühsam (geboren 1878 in Berlin, gestorben 1934 im KZ Oranienburg) gegenüber. Kleists sprunghafter Erzählrhythmus mit seinen typischen dramatischen Tempowechseln wird von den fünf Darstellerinnen und Darstellern effektvoll in Szene gesetzt. Sie sind komische Clowns in einer grellen Zirkus­show, in der Macht und Ohnmacht grotesk zusammenprallen und plötzlich doch die Empörung aufbricht, die den seiner Menschenwürde beraubten Kohlhaas zum Gerechtigkeits-Terroristen macht.
Seine schriftlichen Eingaben werden von einer niedlich beflügelten Botin per Einrad an die Obrigkeit und von den hohen Herren per Reißwolf zu den Akten befördert. Kohlhaas’ Frau wird beim Versuch, die Klage ihres Mannes vorzubringen, in einer beklemmenden Szene Gewalt angetan. Kohlhaas kann dem Unrecht nur noch mit brutaler Gegengewalt standhalten. Die weißgeschminkten Darsteller agieren als pure Theaterfiguren und setzen immer wieder sehr witzig Puppen ein. Beim Spiel „Triff den Tronka“ darf sogar das Publikum mitmachen. Der ehrliche Kohlhaas wird seinen Aufstand für die Wiederherstellung der aus den Fugen geratenen moralischen Ordnung mit dem Leben bezahlen. Aber Kleist wäre nicht Kleist, wenn er ihm nicht einen überraschenden letzten Triumph über den Kurfürsten gönnte.
Das aufwändige große Bühnenbild von Céline Leuchter und die schräge Musik von Gerd Oly sind ein Vergnügen für sich in der rundum gelungenen Aufführung Heute: Kohlhaas, die virtuos traditionelle populäre Spielweisen mit einem heutigen Zugang zu dem immer noch aktuellen Stoff verbindet. Der Regisseur Claus Overkamp (2009 für die Marabu-Produktion Ein Schaf fürs Leben für den renommierten „Faust“-Preis nominiert) schreibt damit den Stil des 2009 verstorbenen Agora-Gründers Marcel Cremer künstlerisch eigenständig fort. Die von der Stiftung Maastricht-Kulturhauptstadt Europas 2018 maßgeblich unterstützte Produktion erlebte nach der begeistert aufgenommenen deutschsprachigen Premiere im Theatersaal der Brotfabrik Bonn inzwischen auch ihre französischsprachige Erstaufführung in Brüssel.
Ein Vergleich mit der ab Mai 2012 in den Kammerspielen zu erlebenden musikalisch-theatralischen Version von Michael Kohlhaas in der Regie von Ulrich Rasche bietet sich an.
E.E.-K.

Geeignet für Zuschauer ab 15 Jahren.

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Spieldauer ca. 80 Minuten, keine Pause.

Montag, 29.10.2012

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