Böses Mädchen - kultur 74 - März 2011

Unheimliche Nähe – Böses Mädchen in der Werkstatt

Irgendwas stimmt nicht in dieser rätselhaften Dreiecksbeziehung, die möglicherweise eine Vater-Tochter-Geschichte ist. Ein verborgener, nie ausgesprochener Schmerz lauert in allen Ecken des fremd vertrauten Hauses, in das eine anscheinend beruflich erfolgreiche Frau nach vielen Jahren zurückkehrt. Alles ist Schein oder Lebenslüge oder verdrängte Lebensangst in Lothar Kittsteins neuem Auftragswerk für das Theater Bonn. Die Inszenierung von Michael Lippold löst die Rätsel der drei Figuren glücklicherweise nicht auf, sondern spielt mit biografischen Möglichkeiten. Eindeutig wird nichts in dem einsamen Waldgasthof, der schon lange nicht mehr von Touristen besucht wird.
Der Eigentümer oder Pächter ist alt und gebrechlich geworden. Wolfgang Rüter gibt dem verwaisten Patriarchen einen Zug ins grimmig Greisenhafte. Ein würdeloses, inkontinentes Wrack, das alles laufen lässt, selbst die Ameisen in der Küche. Der verwilderte Garten diente der attraktiven Frau, die seine Tochter sein könnte, einst oft als Versteck. Birte Schrein spielt die elegante Erscheinung souverän mit den ganz feinen Brüchen, die eine frühe Verstörung vermuten lassen. Das Haus ist ihre Heimat, sie kennt jeden heimlichen Winkel. Was hat sie hier erlebt, bevor sie wegzog und nirgendwo mehr zuhause war? Sind ihre lukrative Stellung und ihre teure Villa eine trotzige Wunschfantasie? Ein zorniges Mitleid zieht sich durch ihre Begegnungen mit dem Mann, bei dem sie zuhause war. Sicher ist: Sie hat ihn damals bewundert und geliebt. Sie war voller Angst und Hingabe sein braves ‚böses’ Kind und wahrscheinlich das traumatisierte Objekt seines sexuellen Triebes, der sie wurzellos machte.
Produkt des denkbaren, aber nie wirklich zur Sprache gebrachten inzestuösen Verhältnisses könnte das Mädchen sein, das die Frau mitgebracht hat. Ihre Tochter und damit Tochter und Enkelin des zerrütteten Patriarchen? Ein eigenwilliges Geschöpf, das Philine Bührer wunderbar sicher in der Schwebe zwischen Infantilität und unverschämtem Selbstbewusstsein hält. Die Frau umsorgt mütterlich das ungezogene „böse Mädchen“, das sich immer mehr von ihr ab- und dem Mann zuwendet. Je realer das Mädchen wird und in erotische Konkurrenz tritt, umso unfassbarer wird es. Vielleicht ist es nur eine Wunschprojektion der Frau und ihr imaginiertes Alter Ego, wenn es ihr den Kopf wäscht und plötzlich in ihren Kleidern ihre Rolle bei dem wieder jung gewordenen Mann übernimmt. Das Objekt wird zum Subjekt im komplexen Spiel mit Wiederholungszwängen auf einer diskontinuierlichen Zeitreise in den Abgrund psychischer und physischer Verletzungen und Demütigungen innerfamiliären Missbrauchs.
Die Frau ist alt und verwirrt, wenn sie in einer Schublade des Vergessens (Bühne und Kostüme: Anne Brüssel) wie in einem Sarg verschwindet. Das böse Mädchen lebt weiter wie in einem bittersüßen Märchen. Albtraumartig mischen sich Naturbilder in den Text: mörderische Insekten, das geschlachtete Kaninchen, das bei der Anfahrt durch den dunk­len Wald beinahe getötete Tier, Fische in einem afrikanischen Gewässer, wucherndes Gestrüpp über Wegen, die wegen gutgemeintem Naturschutz nicht mehr betretbar sind. Ein Dschungel voller faszinierender Sumpfblüten, deren klebrige Zeugungsgier mit Todeskeimen vergiftet ist.
Ohne metaphorische Subtexte wär’s nur ein dramaturgisch ordentlich konstruierter Psychothriller auf der aktuell breitgetretenen Pädophilie-Schiene. Hier geht’s jedoch um das ungeheuer Kranke als Selbstbetrug. Ein subtil sprödes Stück für Erwachsene, schauspielerisch intensiv beeindruckend! E.E.-K.

Aufführungsdauer: ca. 80 Min., keine Pause
Im Programm bis: ????
Nächste Vorstellungen: 12./19.03./23.04.


Donnerstag, 17.11.2011

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