Prélude à l’après-midi d’un faune / Le Sacre du Printemps - kultur 66 - Mai 2010

Faun, Frühlingsopfer, Dornröschen und pure Bewegungslust: Tanzereignisse aus Kanada zu Gast in der Oper

Zwei absolute Klassiker hatte die Compagnie Marie Chouinard mit nach Bonn gebracht. Der Faun, der sich in Couinards Choreographie aus dem Mittagsschlaf räkelt, ist weiblich. Die Tänzerin Carol Prieur verkörpert in dem Solo Prélude à l’après-midi d’un faune ein archaisches Naturwesen: halb der mythische Gott Pan, halb ein zwischen Mensch, Tier und Pflanze changierendes Fantasiegeschöpf. Stéphane Mallarmés von Claude Débussy vertontes Gedicht wird bei ihr zu einem ekstatischen Ritual, in dem die Strenge sehr abstrakter, an griechische Vasenbilder gemahnender Bewegungen sich auflöst im träumerischen Nachvollzug der morgendlichen faunischen Ausschweifungen. Da wird ein Horn zum leuchtend roten Phallus; die wie Sicheln an den Fingern, Armen und Beinen angebrachten Krallen spreizen sich zu seltsamen Blüten. Die sieben begehrten Nymphen sind reine, senkrecht vom Himmel fallende Lichtstrahlen, die der Faun zärtlich umkreist. Vaslav Nijinskis Uraufführungschoreographie von 1912 bleibt dabei immer als tänzerisches Vokabular erkennbar, wird jedoch höchst originell fortgeschrieben in eine zeitlose Gegenwärtigkeit des erotischen Verlangens.
Die Überschreibung macht Chouinard nach dem kurzen Faun-Solo geradezu zum Prinzip in ihrer Version von Le Sacre du Printemps. Die „Signatures sonores“ des zeitgenössischen Komponisten Robert Racine verbinden Schreibgeräusche zu immer schneller werdenden Rhythmen und Klängen, an die sich Strawinskys Musik organisch anschließt. Wie Pflanzenhalme recken sich die Faunskrallen aus dem Boden, bevor sie wieder die zehn Tänzerinnen und Tänzer schmücken. Deren Frühlingsfest steigert sich von der anfänglichen Starre in hinreißend getanzten Soli, Paar- und Ensembleszenen über alle Geschlechtsgrenzen hinweg zu einer orgiastischen Feier des Eros. Allerdings eher spirituell als unmittelbar sinnlich. Wie eine Erinnerung an die ursprüngliche Sakralität des Tanzes. Das Publikum im fast ausverkauften Opernhaus ließ sich begeistern von der ungeheuren Vitalität der beiden fast 100 Jahre alten Ikonen des modernen Balletts.

Montag, 07.02.2011

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