Ion oder Der neue Sohn - kultur 62 - Januar 2010

Zweifelhafte Affäre: Ion oder Der neue Sohn in den Kammerspielen

Es scheint kein schlechter Job zu sein, im Tempel von Delphi für Ordnung zu sorgen. Die junge Putzfrau mit Kopftuch schwingt den Schrubber und ihr Fotohandy, die ältere im blauen Kittel pickt mit ihrem langen Greifzangenstock die Orakelzettel auf und entsorgt sie in die Mülltonne, bis der junge, kräftige Tempeldiener die zierliche Dame, die seine Großmutter sein könnte, übermütig schultert und in die Tonne ­packt, wo sie dann wie eine alte Prinzessin thront. Der Tempelbezirk ist das Zuhause dieses scheinbar zufällig irgendwo aufgelesenen Findelkindes, das vom Rest der Welt nur durch die Ratsuchenden was erfahren hat. Ion ist ein zu groß geratenes Kind, das meistens in schwarzen Unterhosen herumtollt. Oder zum fröhlichen Sirtaki (Musik: Michael Barfuß) mit schwarzer Langhaar-Pe­rücke­ und rosa Glitzertop dionysisch auf Apolls Altar tanzt. Er hat nicht mal eine geschlechtliche Identität; er ist einfach geschichtslos da und wiederholt sich, bis es selbst dem Tempelpersonal zu viel wird. Oliver Chomik gibt diesem ungewollten Wesen eine körperliche Präsenz und naive Selbstvergessenheit, die das bitter Satirische in Euripides’ Drama Ion schon vorwegnimmt.
Das zwischen Tragödie und Komödie schwankende Stück ist eine Bühnenrarität. Goethes Inszenierung am Weimarer Hoftheater 1802 in der Übersetzung von August Wilhelm Schlegel wurde ein Skandal (die genaueren Umstände sind im Bonner Programmheft nachzulesen), Hansgünther Heyme griff in seiner Inszenierung für die Ruhrfestspiele 2000 auf Wielands Fassung zurück. Klaus Weise hat Hubert Ortkemper (in Bonn kamen bereits seine Bearbeitungen von Euripides’ Medea und Elektra / Orest auf die Bühne) mit einer Neufassung des Textes beauftragt und diesen uraufgeführt. Ortkemper verzichtet auf Verse und bleibt mit seiner klaren Sprache dicht am Original. Und da gibt es nichts zu deuteln: Der Gott Apoll hat sich an der athenischen Prinzessin Kreusa vergangen, ihr mit Gewalt ein Kind gemacht und die verzweifelte junge Frau damit sitzen gelassen. Katharina von Bock scheint als Kreusa den knapp zwanzig Jahre zurückliegenden Schrecken wieder zu erleben, wenn sie mit ihrem Gatten Xuthos Apolls Heiligtum betritt, um Hilfe für die unfruchtbar gebliebene Ehe zu erflehen. Martin Kukulies hat Delphi klinisch kühl mit einem gläsernen Aufzug zum tief unter der Erde hausenden Orakel der Pythia ausgestattet. Oben dreht sich währenddessen schön und unnahbar als Videoprojektion das Haupt des Musengottes – wie die später auftauchenden Antikenrepliken, gefilmt im Bonner Akademischen Kunstmuseum. Weises Regie spielt hochintelligent mit den Bildern, die sich jemand von einer idealisierten Vergangenheit macht. Nina V. Vodop’­yanova hält mit der Handkamera auf die Gegenwart und produziert verwackelte Live-Videos vom Family-Crash in Delphi. Apoll hat Xuthos nämlich versichert, dass er sogleich seinen Sohn in die Arme schließen könne. Was grammatisch ziemlich gemein ist. Ralf Drexler macht das Beste draus. Sein Xuthos ist kein dummer Haudegen mit Hut (Kostüme: Dorothea Wimmer), sondern ein Typ, der ganz gern ein bisschen apollinisches Genmaterial in die athenische Erbfolge transportieren würde. Dass ‚sein’ Sohn Ion die ‚väterliche’ Annäherung erst mal gründlich missversteht, ist begreiflich. Nach etlichen Küssen, Wadenmus­kel-Abgleich und Super-Pappi-Euphorie („endlich Kohle!“) geht ihm ein Licht auf: Ein vorehelicher väterlicher Fehltritt ohne Mutter könnte riskant werden.
Klar, dass Kreusa Xuthos’ vermeintlichen Bas­tard beiseite schaffen muss. Klappt aber nicht. Beim Bericht vom verpassten Giftmord hat Tanja von Oertzen den einzigen Moment des 75 Minuten kurzen Abends (gefühlt etwa die doppelte Zeit), an dem die gesamte Tragik des bösen Spiels zur Sprache kommt. Apoll hat Kreusas Werkzeug nicht nur ins Handwerk gepfuscht, woraufhin sich die Botin mit einem tiefen Zug aus der Scheuermittelflasche den Rest gibt, sondern mit einem fiesen Trick sein Opfer zur Täterin gemacht. Kreusa ahnt nur, dass ihr eigener Sohn sie hinrichten soll. Ion ahnt, dass die schöne Mörderin seine Mutter sein könnte, wenn er ihr das Messer an den Hals setzt und im Hintergrund der blutige Film vom Opfertier-Schlachtfest läuft. Tod und Geburt so nah beieinander sind schmerzhaft. Oliver Chomik und Katharina von Bock spielen die grausame Intimität der gegenseitigen Erkennung grandios. Leider im falschen Film. Verkappte Putzfrau knipst per Handy sensationelle Bilder von letzten Tränen und schickt’s als Freelance-Journalist an YouTube. So trostlos geht die Sache glücklicherweise nun doch nicht aus. Möglicherweise war das alles nur ein Traum des Touristen Xuthos, der sich zwischen griechischen Gipsköpfen in Museumsregalen kurz apollinisch verirrte und nun wie Euripides behauptet: Götter sind auch nur Menschen. Der Olymp ist entzaubert, in Delphi wird der Tempel geputzt, Ion hat keine Eltern. Wozu auch, seine kleine Welt ist doch ganz gut in Ordnung. Wenn da nicht diese unordentlichen Verstörungsmomente gewesen wären, die alle Identitäten auf die Probe stellten. Weises Inszenierung spielt mit Momentaufnahmen des brutalen Irrsinns, geht aber nie unter die Haut. Die Entscheidung zwischen Tragödie und Komödie überlässt er dem Zuschauer, dem er durch den Kamerablick allerdings die Rolle des Voyeurs aufzwingt. Dabei brauchen die fünf Schauspieler gar kein technisches Vergrößerungsglas. Sie spielen so energiegeladen, dass ihre Figuren fast explodieren. Der Rest ist Regie, bei der ein Gott halt aus dem olympischen Ruder lief. Was in der Regie von Klaus Weise aber hinterfragt werden darf. E.E.-K.

Aufführungsdauer: ca. 1¼ Std., keine Pause
Im Programm bis: ?????
Nächste Vorstellungen: 3.01./16.01./22.01./30.01./6.02./24.02./28.02.

Donnerstag, 09.12.2010

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