Schwanensee, Dornröschen und Nussknacker - kultur 63 - Februar 2010

Ballettklassiker alt und neu - Das Russische Nationalballett und das Malandain Ballet Biarritz zu Gast in der Oper

Tschaikowskys drei unsterbliche Handlungsballette Schwanensee, Dornröschen und Nussknacker präsentierte das Russische Nationalballett, sicher eine der besten unter ähnlichen Namen durch die Welt tourenden Compagnien, kurz vor Weihnachten. Die Ende der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts gegründete große Truppe pflegt die Tradition der russischen Tanzkultur werkgetreu aufs Schönste. Perfekter Spitzentanz aus einer heilen Märchenwelt, mit liebevoll gemalten romantischen Landschafts-Prospekten und noblen Festsälen, als ob die Zeit stillgestanden hätte nach dem Ende des 19. Jahrhunderts, als Marius Petipa und Lew Iwanow in St. Petersburg all diese kunstvollen Posen und Pirouetten, Sprünge und Arabesken auf die Bühne brachten. Inklusive der unvermeidlichen Divertissements mit ihren Nationaltänzen, mit denen die Geschichten auf abendfüllende Länge gebracht werden, was bei aller Virtuosität dieser auf Beifall im Fünfminutenrhythmus hin angelegten ‚Nummern’ meistens nur mäßig spannend ist. Zur leicht scheppernd vom Band tönenden Musik bei Dornröschen und Nussknacker auch nur eingeschränkt unterhaltsam.
Für den dreimal vor ausverkauftem Haus gezeigten Schwanensee war immerhin das Orchester des Russischen Nationalballetts angereist. Unter der Leitung von Alexey Osetrov erklang Tschaikowskys Musik mit solidem Charme, aber feinen lyrischen Passagen bei den berühmten Soli. Das sehnsüchtige Schwanen-Motiv ist aus der Tanzgeschichte ohnehin ebenso wenig wegzudenken wie die scheinbar aller Erdenschwere enthobenen Geschöpfe in weißen Tutus. Die aus Luft und Wasser geborenen, auf der Spitze schwebenden Schwanenmädchen mit ihren wie Flügel flatternden Armen sind vergangene Ballettromantik pur, aber ohne den „Schwanensee“ ist die Faszination dieser Tanzform kaum zu begreifen. Margarita Kamish tanzte absolut hinreißend die technisch und psychologisch extrem anspruchsvolle Doppelpartie der weißen zärtlichen Odette und der schwarzen kapriziösen Odile und überzeugte mit ihrer Ausdrucksfähigkeit auch in den anderen Stücken. Der brillante Timur Kinzikeev war mit seinen verteufelt kraftvollen Sprüngen ein gefährlicher Zauberer Rotbart und auch sonst zuständig für das düster dämonische Element. In den komischen Partien begeisterte Aleksndr Akikin mit geradezu akrobatischer Beweglichkeit und pantomimischer Spielfreude. Das ungemein präzise Corps de ballet und die Solis­ten lieferten in allen drei Stücken feinste Anmut und schönste Figuren aus dem Repertoire der Spitzeneffekte und traumhaften Lufteroberungen. Mit solch graziler Disziplin und hinreißender Naivität, dass es den Staub von den alten Choreographien blies.

Ohne diese Wunder an beseelter Körperbeherrschung und ästhetischer Überwindung der Schwerkraft gäbe es die parodistischen Raffi­nessen nicht, mit denen Anfang Januar das Malandain Ballet Biarritz (zum ersten Mal eine französische Compagnie in der internationalen „Highlights“-Serie) im Opernhaus glänzte. Dass die Truppe unter der Leitung ihres Gründers Thierry Malandain ihr Programm wegen Verletzungen im Ensemble kurzfristig ändern musste, erwies sich als Glücksfall. Ers­tens kam das Bonner Publikum deshalb in den Genuss der deutschen Erstaufführung von Magifique (der Titel kombiniert die französischen Wörter „magique“ und „magnifique“), Mitte Dezember 2009 uraufgeführt im spanischen San Sebastian. Zweitens ist dieses Stück eine zärtlich ironische Hommage an Tschaikowskys drei Ballette. Malandain lässt einen jungen Tänzer (Arnaud Mahouy) kindlich staunend durch die Märchenwelt von Dornröschen, Schwanensee und Nussknacker irren. Geführt und gelegentlich ernüchtert durch einen erfahrenen Begleiter (Frederik Deberdt), der den Zauber und die Zerbrechlichkeit dieser künstlichen Idyllen kennt. Mit diesem doppelten Blick werden zur Musik von Tschaikowskys entsprechenden Orchestersuiten die berühmten Tanzfiguren und die Magie des schönen Scheins spielerisch herbeizitiert. Schauplatz bleibt der Ballettprobensaal mit beweglichen Spiegeln und Trainingsstangen: Jede Illusion ist bewusst hergestellt, jede Schwerelosigkeit ein Ergebnis körperlicher Schwerstarbeit.
So ganz geheuer sind die Zuckerfeen, Mäusekönige, bissigen Nussknacker, mehr oder minder bösen Zauberer, tapferen Prinzen, verschlafenen Prinzessinnen und melancholisch flatternden Schwäninnen ohnehin nicht mehr. Getanzt wird in Malandains Choreographie zumeist auf Halbspitze, witzig konterkariert durch Passagen auf flacher Sohle. In seinen hautfarbenen Einheitstrikots mit plastisch hervorgehobenen Rippen wirkt das Ensemble wie eine hoch getrimmte Körpermaschinerie, aus der sich Einzelne herauslösen, um lustvoll ihre Individualität zu behaupten. Selbstbewusst fertigt Aurora (Silvia Magalhaes) im Rosenadagio von Dornröschen die vier Kavaliere ab. Der verführerische Höhenflug der weißen und schwarzen Schwanenprinzessinnen mit dem jungen Prinzen Siegfried (Wagners Lohengrin-Schwanenritter Ludwig II. stand hörbar Pate für Tschaikowskys Fantasiefigur) bleibt eine erotische Legende. Ungemein komisch stellen die vier putzigen kleinen (hier männlichen!) Schwäne ihre munteren Pas de chats hinter einem umgekippten Spiegel von den Füßen auf den Kopf. Die Puppen im Nussknacker werden frech lebendig und entwickeln ein lackschwarzes Drohpotential.
Eine knapp anderthalbstündige poetische Reflektion über die Magie des Tanzes mit reizvollen Brechungen und der keineswegs neuen Einsicht, dass geistreiche Reflexionen die Kenntnis des gespiegelten prominenten Originals voraussetzen. Sonst sind sie nur halb so schön, wobei in diesem Fall allerdings die Exzellenz der französischen Compagnie schon für ein ganzes Erlebnis reichte. E.E.-K.

Dienstag, 11.01.2011

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