Aus dem Leben der Regenwürmer - kultur Nr. 21 - November 2005

Höchst empfindliche Kriechtiere - ”Aus dem Leben der Regenwürmer” von Per Olov Enquist im Euro Theater Central

Johanne Luise Heiberg (1812 - 1890) war in Kopenhagen eine gefeierte Schauspielerin; sogar Sören Kierkegaard soll einige Male seine Philosophenklause verlassen haben, um sie auf der Bühne zu sehen. Ihr Mann Johann Ludvig Heiberg (1791 - 1860) war ein berühmter Dichter, gefürchteter Kritiker und zeitweise Theaterdirektor in Kopenhagen. 1828 kam sein dänisches Nationalfestspiel ”Elfenhügel” auf die Bühne. Der Dichter Hans Christian Andersen (1805 - 1875) war nicht besonders ansehnlich, aber eitel. Er reiste viel (nachdem er sich's leisten konnte), und kam im Ausland wesentlich schneller zu Ruhm und Ehren als in seiner dänischen Heimat. Er war ein Hypochonder, fürchtete sich davor, lebendig begraben zu werden, wollte nicht ‚nur' als Märchenautor für Kinder anerkannt werden und schrieb doch schon mit gerade mal knapp 40 Jahren eine Autobiografie mit dem Titel ”Das Märchen meines Lebens”. Der große schwedische Schriftsteller Per Olov Enquist hat bereits 1981 ein Drama herausgebracht, das eine Begegnung zwischen dem Ehepaar Heiberg und Andersen rekonstruiert und dabei die Konstruktion von Lebensgeschichten und -lügen aufdeckt. Der junge rumänisch-ungarische Regisseur István Szabó K. hat das Stück ”Aus dem Leben der Regenwürmer” zum 200. Geburtstag von Andersen jetzt im Euro Theater neu inszeniert und dabei in seiner schönen Ausstattung auch den Untertitel ”Ein Familiengemälde von 1856” sehr ernst genommen. Zwei Bilderrahmen bestimmen den Raum, in dem die Figuren mühsam das Bild festzuhalten versuchen, das sie selbst und andere sich von ihnen gemacht haben. Szabó konzentriert das Werk geschickt auf den Dialog zwischen Hanne und Andersen und nennt es ”ein Requiem”. Johann (Daniel Andone), der sich verbittert aus der Welt zurückgezogen hat, zitiert nur noch holpernd die lateinischen Texte aus der Totenmesse und verbirgt seinen Kopf unter einem Sack - eine ferne, aber immer anwesende Bedrohung, die an ihrer eigenen Angst fast erstickt. Am Ende wird er sich jung und strahlend noch einmal zeigen wie der Engel, den ein Märchengott zur Erde schickt, um die toten Kinder in seine Glückseligkeit zu holen. Im Hintergrund hockt scheinbar unbeteiligt ein kahlköpfiges Wesen (Julianna Viczián), maskiert und ausgestopft wie ein Theaterclown. Ab und zu brechen gestammelte Wörter aus ihm heraus; am Ende wird es singen wie ein endlich erlöster Engel - zu den himmlischen Tönen von Friedrich Daniel Rudolf Kuhlau, dem Kopenhagener Hofkomponisten, dessen Musik neben der des estnischen modernen Tonschöpfers Arvo Pärt die Aufführung suggestiv begleitet.
Erlösung von der Geschichte durch Geschichten - danach streben alle. Der Schuhmachersohn Andersen und Hanne haben etwas gemeinsam: Beide wurden durch reiche Gönner aus der Gosse geholt und ins Licht gehoben; beide haben dafür mit einem Selbstverlust bezahlt. Thomas Graw spielt sehr differenziert den hilflosen, gerade wieder von einem äußerst peinlichen Missgeschick heimgesuchten Andersen, macht sich am Anfang auf Stelzen groß und sackt nach und nach in sich zusammen. Mal demütig, mal triumphierend, mal hinterhältig entlarvt er sich und den bewunderten Star. Die großartige Heike Bänsch ist die elegante, arrivierte Künstlerin, der er sachte den Boden unter den Füßen wegzieht. In einer geradezu ibsenschen Aufdeckungsdramaturgie kommen allmählich die Verletzungen und Ängste der beiden zum Vorschein. Vor allem die von Hanne, deren Weg zum Ruhm über Vergewaltigung und Inzest führte. Die beiden belauern und trösten sich und treffen sich endlich bei einem frühen Erlebnis, das sie aus verschiedenen Perspektiven wahrgenommen haben: ein Judenprogrom in Kopenhagen, bei dem Hannes Mutter grausam zugerichtet wurde.
Schuld, Verachtung, Sehnsucht nach Liebe und Glück - daran sind alle vier Personen zerbrochen. Andersen hat wenigstens in seinen Märchen, die eine Kinderstimme aus dem Off zitiert, eine Lebenslösung gefunden.
Regenwürmer aus der Erde zu holen und zu waschen, mag gut gemeint sein, ist aber gefährlich: Sie sterben dran. Davon erzählt höchst sensibel und präzis dieses bemerkenswert spannungsvolle Requiem zwischen Fiktion und Historie. Nicht nur düster, sondern auch heiter und lebendig. Großer Premierenbeifall! Das rührige Dänische Kulturinstitut in Bonn hat schon Interesse angemeldet, diese Produktion auch bei unseren nördlichen Nachbarn gastieren zu lassen. E.E.-K.


Aufführungsdauer: ca. 11/4 Std. ohne Pause
Im Programm bis: ???

Mittwoch, 17.01.2007

Zurück

Merkliste

Veranstaltung

Momentan befinden sich keine Einträge in Ihrer Merkliste.



Letzte Aktualisierung: 29.03.2024 15:01 Uhr     © 2024 Theatergemeinde BONN | Bonner Talweg 10 | 53113 Bonn