Sonia Mushkat - kultur 36 - April 2007

Die Eingeschlossenen von Ungarn - Sonia Mushkat von Savyon Liebrecht in den Kammerspielen

Die Hölle - das sind die Anderen in dieser ungarisch-jüdischen geschlossenen Gesellschaft (Sartre lässt grüßen) am Ende des zweiten Weltkriegs. Die 1948 in München geborene israelische Schriftstellerin Savyon Liebrecht gehört in ihrer Heimat zu den wichtigsten Autorinnen ihrer Generation und wird von den deutschsprachigen Bühnen gerade entdeckt. Das nach einer Erzählung entstandene Drama Sonia Mushkat wurde 1998 am Israelischen Nationaltheater Habima in Tel Aviv uraufgeführt und ist nun - als erstes Stück der Autorin in Deutschland überhaupt - in den Bonner Kammerspielen zu sehen.
Regisseur Michael Helle inszeniert die Geschichte um Todesangst und Lebenslügen trotz gelegentlicher und dramaturgisch unvermeidlicher Drastik sehr sensibel als psychologisches Kammerspiel. Der breite helle Holzkasten, den Ausstatter Dieter Klaß dafür als Spielraum auf die Bühne gestellt hat, verweigert ohnehin jeden Kellerloch-Realismus. Es könnte jederzeit und überall sein, wo Menschen auf der Flucht vor einer mörderischen Bedrohung eingeschlossen sind und beim quälenden Warten mit ihrer eigenen Wirklichkeit konfrontiert werden. Mit stoischer Ruhe und spöttischem Blick ins Publikum gießt Paula zu Beginn Wasser aus modernen Pet-Flaschen in Eimer. Es wird kostbar werden in der langen Zeit, die die kleine jüdische Familie in der Unterwelt unter ihrer herrschaftlichen Villa verbringen muss. Paula, die kühle Realistin im Reitdress, markiert mit Klebeband den Raum, der ab jetzt jedem zur Verfügung stehen wird: Die offenen Grenzen werden eng. Die Nazis haben den Ort in der ungarischen Provinz besetzt, der Deportationsbefehl für alle Juden liegt vor, das Haus der Mushkats ist beschlagnahmt. Man hört und sieht die mit bürokratischem Stumpfsinn an ihrer Vernichtungsmaschinerie arbeitenden deutschen Soldaten jedoch nicht in dem hermetischen Zufluchtsort; die Präsenz der Gefahr ist gespenstisch lautlos und ohne Gesicht, der Schrecken umso fühlbarer.
Die 58-jährige Lidia verweigert sich ihm lange. Mit Pelzmantel, Abendkleid und blonder Perücke gibt die großartige Tanja von Oertzen die feine Dame, deren Egozentrismus in brutale Gemeinheit umschlägt, bevor sie jede menschliche Würde verliert, als zitterndes hungriges Tier herumkriecht und in ihren eigenen Exkrementen vor sich hin dämmert. Tatjana Pasztor ist ihre jüngere Schwester Paula, sehr verletzlich unter der harten, leicht maskulinen Schale, mit der Reitgerte Disziplin fordernd, vernünftig bis zur Irrationalität und immer unter einer geradezu elektrisierenden Hochspannung. Hendrik Richter spielt Lidias verlotterten Sohn Albert, ein versoffener, verantwortungsloser Zyniker mit Tantenkomplex und ziemlich locker sitzenden Sicherungen, also eine massive Gefahr.
Das Überleben und den spärlichen Kontakt zur Außenwelt sichert das 17-jährige christliche Bauernmädchen Sonia, das ein befreundeter Anwalt der unseligen Familie als dienstbaren Geist zur Verfügung gestellt hat. Maria Munkert spielt diesen Fremdkörper im bürgerlichen Abhängigkeitsgefüge mit einer unschuldigen, furchtlos reinen Natürlichkeit, erträgt Lidias grausame Demütigungen mit seltsam heller Gelassenheit und scheinbar naivem biblischem Samaritertum. Dass sie mehr mit der Familie Mushkat zu tun hat und selbst zu den Gefährdeten gehört, wird schnell klar. Dass die beiden verzweifelten Frauen sie dem triebhaften Albert zum Liebesdienst zuführen, verändert allerdings das Machtgefüge. Sonia ist die Tochter ihrer lieblos verstoßenen Schwester, legale Erbin eines Vermögensteils und mit einem Kind Alberts im Bauch jetzt mehr als nur ein Stachel im Fleisch des ehrenwerten Mushkat-Clans.
Der Familienkrimi im ungarischen Albtraumkeller ist zwar eher eine effektvolle Theaterkonstruktion, und der Holocaust bleibt nur eine Hintergrundfolie für die tödliche Verstörung von Menschen in einer Situation unfassbarer Lebensvernichtung. Savyon Liebrecht schildert keine völlig unschuldigen jüdischen Gutmenschen und keine bösen Monster, sondern entsetzlich banale Individuen mit Brüchen und Schwächen, die sich jeder Abrechnung entziehen. 437.000 ungarische Juden wurden im Frühjahr 1944 nach Auschwitz verschleppt. Jeder von ihnen hatte eine eigene Geschichte, die nicht immer nur eine gute war. Sonia Mushkat ist deshalb ein hervorragendes Beispiel für die ewigen Schmerzen des Verschwiegenen und die Furcht vor dem Verlust der aktuell an vielen Orten der Welt gefährdeten Menschlichkeit. Dringend sehenswert!
In der nächsten Saison wird das Theater Bonn übrigens ein neues Stück von Savyon Liebrecht herausbringen: Die Banalität der Liebe handelt von der merkwürdigen langen Liebesgeschichte des sehr deutschen Philosophen Martin Heidegger und seiner jüdischen Schülerin Hannah Arendt, die mit ihrem Bericht von dem Jerusalemer Eichmann-Prozess Die Banalität des Bösen weltweit Aufsehen erregte und als Philosophin Heideggers ontologischem Hauptwerk Sein und Zeit wortmächtige Spuren zuschrieb. Einen Vorgeschmack auf die „Holzwege“ einer Beziehung haben Bundesfinanzminister Peer Steinbrück (übrigens ein blendend guter Rhetoriker in der aktuell nicht gerade mit sprachlich-intellektuellen Glanzstücken verwöhnten Politlandschaft) und die unverwüstliche Bonner Literatur-Kaiserin Karin Hempel-Soos im Februar schon mal bei einer Lesung aus dem Briefwechsel der beiden Protagonisten in den total überfüllten Kammerspielen gegeben. E.E.-K.

Aufführungsdauer: ca. 2 Stunden ohne Pause

Dienstag, 08.01.2008

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