Carmen - kultur 72 - Januar 2011

Une femme révoltée: Carmen in der Oper Bonn

„L’amour est un oiseau rebelle“, heißt es im französischen Originaltext der berühmten Habañera. Das klingt etwas anders als das ziemlich harmlose „Ja, die Liebe hat bunte Flügel“. Der junge Regisseur Florian Lutz versucht deshalb in seiner Carmen-Inszenierung, das Klischee der temperamentvollen, verführerischen femme fatale zu unterlaufen und auch die spanische Folklore und Zigeunerromantik außen vor zu lassen. Carmen, Arbeiterin in einer Zigarettenfabrik, ist eine Frau, die gegen alle vorgegebenen Zwänge revoltiert. Weniger ein erotisches Energiebündel, das sich nach Laune in der Männerwelt bedient. Sie will ihre persönliche Freiheit, auch wenn sie sich hier an die Spitze des Aufruhrs der Ausgebeuteten stellt, rote Flugblätter verteilt und nach einem Sabotageakt in der Fabrik hinter der zusammengekrachten Mauer im roten Tuch wie die Freiheitsstatue posiert.
Meistens trägt sie Jeans zum weißen Unterhemd. Die gertenschlanke, sportliche Mezzosopranistin Susanne Blattert verkörpert diese selbstbewusste junge Frau geradezu ideal. In ihrer Stimme lässt sie hinter der burschikosen Erscheinung all die großen Gefühle aufblühen: Wut und Empörung, Leidenschaft und Verzweiflung, Lebenslust und Todesangst. Die Polizisten, die in einem Glashaus vor der Fabrik ihren Dienst schieben und brav ihre Akten sortieren, haben gegen Carmens anarchisches Charisma keine Chance. Selbst wenn sie im Unterrock mit Handschellen an einen Bürostuhl gefesselt wird und Don José ihr einen Eimer Wasser an den Kopf schüttet – in der Gewalt dieser nur durch ihre Uniform starken Männer wird sie nicht bleiben.
José, bei der Premiere eindrucksvoll gesungen und gespielt von dem französischen Tenor Jean-Noël Briend, ist wahrhaftig kein Held. Ein Muttersöhnchen aus der Provinz, pflichtbewusst und fasziniert von der Bohémienne (das französische Wort für Zigeunerin), die ihm bei der vorhergehenden Demonstration ein zusammengefaltetes Flugblatt statt der Blume zugeworfen hat. Wehrlos verliebt ist er, lässt Carmen fliehen und taucht natürlich nach seinem Arrest in der Untergrund-Kneipe von Lillas Pastia auf, wohin Carmen ihn eingeladen hat.
In diesem Treffpunkt der Bohémiens geht echt die Party ab. Bizets Musik rockt zum wilden Tanz, den Rhythmus der Kastagnetten klappert Karl Marx persönlich auf seiner Schreibmaschine. Ein amüsanter Einfall, auch wenn er inhaltlich nicht überzeugt: Der Schauspieler Roland Silbernagl geistert in Marx-Maske durch die Geschichte, zitiert ironisch Sätze aus theoretischen Schriften und macht die proletarische Revolution zur Lachnummer. Auch sonst gibt es viel zu sehen in dem aufwändigen Bühnenbild von Ausstatterin Andrea Kannapee. In luftiger Höhe feiern die zu Bauarbeitern mutierten Briganten ein opulentes Abendmahl mit artistischen Flugnummern. Wolkenkratzer werden gesprengt, während unten ein Banker vor der Frankfurter Skyline über Bilanzen brütet und schließlich mit Waffengewalt in seinen Tresor gesperrt wird. Und Torero Escamillo – ein Bilderbuch-Mannsbild, karikiert von dem stimmlich hervorragenden Bariton Mark Morouse – nimmt den Fallschirm nach seinem großen Auftritt auf dem Baugerüst.
Klar, dass Carmen sich für den Arena-Star entscheidet, der einfach mehr zu bieten hat als der kleine Polizist José, der sich beim Zapfenstreich glatt in die Kaserne zurückpfeifen lässt, während sein Liebesglück zum Greifen nahe ist. Nicht ihr aufreizender Tanz hält ihn zurück, sondern das Auftauchen seines Vorgesetzten Zuniga (wuchtig mit schönem Bass: Ramaz Chikviladze). Zornig lässt sie diesen Schwächling fallen, der einfach nicht zu ihr passt. Dessen rasende Eifersucht ist fast schon rührend, weil er begriffen hat, dass sein kleinbürgerliches Format ihren Ansprüchen nie genügen kann.
Sehr berührend singt Julia Kamenik Josés Verlobte Micaëla. Ein hübsches Mädchen vom Dorf, aber hier nicht nur ein naives Land-Ei, sondern eine junge Frau mit durchaus eigenen unerfüllten Sehnsüchten. In der demons­trativ Zigaretten rauchenden Gesellschaft der proletarischen Lohnarbeiterinnen ist sie ebenso ein Fremdkörper wie beim bunten Lumpenproletariat der Bohème, das sich vogelfrei der Kunst widmet und dabei seine kriminellen Geschäfte betreibt. Hervorragend bewähren sich dabei wieder einmal Chor und Extrachor unter der Leitung von Sibylle Wagner sowie der von Ekaterina Klewitz einstudierte Kinder- und Jugendchor. Sein Meisterstück liefert Regisseur Lutz bei den Massenszenen, in denen jede Figur individuell inszeniert ist. Mit energischem Tempo und raffinierter psychologischer Ausleuchtung von musikalischen Details spielt das Beethovenorchester Bonn unter der Leitung von Robin Engelen, der mit Carmen zum ersten Mal die musikalische Leitung einer Opernproduktion übernommen und seine Feuerprobe als Erster Kapellmeister glänzend bestanden hat.
Auch in kleineren Rollen zeigt das Bonner Solisten-Ensemble gesanglich und spielerisch Spitzenklasse. Giorgos Kanaris als Bandenchef Dancaïro im Bärenkostüm, Mark Rosenthal als komischer Gauner Remendado in Weiberklamotten, Judith Gauthier und Kathrin Leidig (beide neu im Ensemble) als Frasquita und Mercédès liefern witzige Charakterstudien. Bis es im letzten Akt dann doch ernst wird. Carmen hat sich herausgeputzt für Escamillos große blutige Stierkampf-Show. Im eleganten weißen Kleid fühlt sie sich sichtlich unwohl. Nettes Torero-Liebchen ist einfach nicht ihr Ding. Die sich auf den Rängen tummelnde mehr oder weniger feine Gesellschaft auch nicht. Dann schon lieber dem durch die Karten geweissagten Tod direkt ins Auge sehen. Wütend über die Männer, die sie zum Objekt machen wollten. Der arme José tut, was er nicht lassen kann; die aufmüpfige Politkämpferin und Liebesterroristin bleibt jedoch auch sterbend noch Subjekt ihres Handelns.
Nicht alles ist gedanklich plausibel in der einfallsreichen Inszenierung, in der die flirrende Sinnlichkeit auf der Bühne etwas zu kurz kommt gegenüber dem aufgepfropften antikapitalistischen Politspektakel. Sehr unterhaltsam ist sie trotzdem und musikalisch fabelhaft gut. So gut, dass man getrost noch mal hingehen sollte, um sie in der Alternativbesetzung zu erleben: Also u. a. mit Anjara I. Bartz (Carmen), George Oniani (Don José), Irina Oknina (Micaëla), Martin Tzonev (Zuniga) und Emiliya Ivanova (Frasquita). E.E.-K.

Aufführungsdauer: ca. 3 Std., eine Pause
Im Programm bis: 19.07.11
Nächste Vorstellungen: 9.01./13.01./19.01./23.01./26.01./29.01./20.02.

Montag, 21.03.2011

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