Der Garten der Lüste / La Valse / Coisas que ajudam a viver - kultur 81 - Dezember 2011

3-teiliges Programm des Balé da cidade de São paulo in der Oper: Weltklasse-Tanz

Wer südamerikanische Samba-Lebenslust oder brasilianische Folklore erwartet hatte, kam nicht auf seine Kosten. Stattdessen erlebte man atemberaubendes Tempo und Tanzkunst auf Spitzenniveau im restlos ausverkauften Opernhaus bei dem dreiteiligen Gastspiel der grandiosen brasilianischen Truppe Balé da cidade de São Paulo.
In einem goldglänzenden Regen aus Licht erscheinen sie auf der Bühne und formieren sich akrobatisch zu in- und übereinander geordneten Gruppen, bei denen einzelne einen Moment lang zu schweben scheinen. Aus 29 Körpern entstehen Bilder, die an das rätselhafte Triptychon „Der Garten der Lüste“ von Hieronymus Bosch erinnern. Dessen Gemälde sind Inspirationsquelle für das von dem Griechen Andonis Foniadakis choreographierte Tanzstück Paradise lost, das natürlich auch auf John Miltons gleichnamiges episches Gedicht anspielt. Eine Geschichte wird freilich nicht erzählt in dem 50-minütigen Werk, mit dessen deutscher Erstaufführung der Abend begann. Traumgespenster und Chimären aus dem allegorischen Labyrinth Boschs mischen sich mit unschuldiger Nacktheit, ungestilltes Begehren verwandelt sich ­Aggression. Im Taumel der Selbsttäuschung prallen Freuden und Ängste zur elektronisch verzerrten Musik von Julien Tarride unmittelbar aufeinander. Gesang von überirdischer Schönheit trifft auf wüstes Schlagzeug-Gehämmer, wenn eine Gruppe sich mit Metallstangen traktiert. Pathetische Höhenflüge werden gestoppt von dämonischen Kräften und maskierten Gestalten, die die hässliche Fratze der Lust andeuten. Bis am Ende doch strahlende Wesen in Glitzerkostümen wie gefallene Engel aus einer fernen Welt auftauchen und alle Ängste und Hoffnungen in einer Zauber-Glaskugel zurückbleiben, die bei Bosch mehrfach als Weltsymbol auftaucht.
Zum Wiener Walzer bat danach der argentinische Altmeister Luiz Arrieta zu Maurice Ravels La Valse. Das kurze Stück für zwei Klaviere, eigens für diese Tanzproduktion arrangiert und eingespielt von Marta Argerich und Nelson Freire, gehört zu den Klassikern der Compagnie. Vier Paare tanzen diesen melancholischen Abgesang auf die Dreivierteltakt-Seligkeit des 19. Jahrhunderts – die Damen in eleganten schwarzen Ballkleidern und Stö­ckelschuhen, die Herren mit steifen weißen Hemdbrüsten. In den Walzertraum mischen sich jedoch unversehens Tango-Tanzfiguren. Eine Frau sackt ständig zusammen und wird von ihrem Partner mitgeschleift, bis die fixierten Schrittfolgen so präzis entgleiten, dass nur noch ein skurriles Gezappel übrig bleibt. Ein hinreißend virtuos getanzter ironischer Walzertaumel!
Witzig nimmt die japanischstämmige brasilianische Choreographin Susana Yamauchi in Coisas que ajudam a viver die Lebenssinnsuche ihrer Landsleute aufs Korn. Jemanden gemein zum brav Fußbälle apportierenden Hündchen zu degradieren gehört ebenso dazu wie nächtliche Strandpartys, Drogen und psychophysische Zusammenbrüche. Eine Frau liegt wie tot am Boden, wird von den anderen wieder aufgerichtet und stürzt zurück ins irrsinnige Palaver der widersprüchlichen Sinnangebote, wo nichts mehr Bedeutung hat. Die „Dinge, die zum Leben helfen“ sind seltsam gleichgültig geworden in diesem atemlosen Überlebensspiel. Ein fantastisches Tanzdrama, das mit der Körperenergie von 24 bis zum Äußersten geforderten Tänzern anrennt gegen die maschinelle Entindividualisierung.
Begeisterter Beifall für das große brillante Ensemble. E.E.-K.

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Nächste Veranstaltungen in der Reihe
„Highlights des Internationalen Tanzes“:
6.12.11 Deca dance - Batsheva Ensemble (Israel)
9.+10.12.11 Der Nussknacker - Das russische Nationalballett

Donnerstag, 16.02.2012

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