Der entfesselte Fidelio oder das Blut der Freiheit - kultur 79 - Oktober 2011

Der entfesselte Fidelio oder das Blut der Freiheit von Klaus Weise im Landesbehördenhaus: Bewegende Rauminstallation

Das ehemalige Bonner Polizeipräsidium in einer der markantesten, fast vergessenen Bauruinen Bonns ist zweifellos der Hauptakteur des ungeheuren Spektakels, zu dem Generalintendant Klaus Weise und Ausstatterin Dorothea Wimmer ins einstige Landesbehördenhaus am heutigen Platz der Vereinten Nationen einladen. Zwei lebendige Schimmel weiden im ersten Innenhof, wo die Herren des Extrachors der Oper in alten Polizeiuniformen Beethovens „Fidelio“-Gefangenchor anstimmen: „O, welche Lust, in freier Luft den Atem leicht zu heben“, singen sie und führen die Besucher in den zweiten Innenhof, wo eine blökende Schafherde ihre Kreise zieht. Angeführt von einem golden kostümierten Rokoko-Paar. Ein klassischer Locus Amoenus ist dieser kahle Hof aber gewiss nicht.
„Europa, wir kommen“, verspricht eine Stimme vom Band, bevor man sich auf Wanderschaft begibt durch die Eingeweide des Gebäudes, in dem fremde Schicksale entschieden wurden und vieles vorstellbar wird vom Elend entrechteter Flüchtlinge, von Folterzellen und globaler Bürokratie. An den Pfeilern der finsteren Tiefgarage kann man Schauspielern lauschen, die vom „Vaterunser“ über Shakespeares „Richard II.“ bis zu Sadomaso-Fantasien ungerührt Schlimmes herbeiflüs­tern. Autos fahren auf und beleuchten mit ihren Scheinwerfern Leinwände mit Bildern der aktuellen Kriegsschauplätze. Man kann frei weiterwandern durch die verrotteten Räume. Im Zellentrakt traktiert der Musiker F.M. Einheit martialisch Metallgitter, während die engen Räume Geschichten von Gewalt und Angst assoziieren. In der Turnhalle lässt der Choreograph Miguel Angel Zermeño Männerleiber brutal aufeinanderprallen. Psychisch fertiggemacht wir eine Frau (Philine Bührer) von zwei Verhörern (Ralf Drexler und Arne Lenk) in der Einsatzzentrale. Im Herrensalon räkeln sich reizende Damen des ältesten Gewerbes, während ein bewaffneter Mann existenzphilosophische Grundlagen vorträgt. Im Bürotrakt lesen Studierende der Alanus-Hochschule in identischen Business-Outfits theoretische Traktate zur Gewalt in Kunst und Gesellschaft.
Lange aufhalten sollte man sich in der besonders liebevoll mit Landserheften, Totenkopf, Sturmhelm und Sarg ausstaffierten kleinbürgerlichen Hausmeisterwohnung, wo Birgit Nilsson als Leonore von einer alten Schallplatte ertönt und Rolf Mautz Jean Raspails rechtsradikales Roman-Gedankengut vorträgt. Was wohl auch der Grund dafür ist, dass Tanja von Oertzen bedrohlich mit einem Messer herumgeistert.
Über die nicht gerade erfreuliche Kühlzelle kann man sich in den 5.Stock zur Kantine hocharbeiten, wo Susanne Bredehöft und Anastasia Gubareva neben anderen Songs ein „Ade zur guten Nacht“ spendieren. An der eigens eingerichteten Bar kann man sich nach aller Blutrunst diverse Drinks genehmigen und von der Terrasse aus einen spektakulären Blick auf den Posttower genießen. Freiheit bleibt eine offene Option, aber wie beim entfesselten Prometheus ein schwer zu bändigendes Feuer. Oder eine Sisyphus-Arbeit. Nach Camus haben wir uns den ewig vergeblich Steine schleppenden Büßer aber als glücklichen Menschen vorzustellen.
Die ungemein aufwändige Produktion mit zahllosen Statisten und Wegweiser-Personal entfaltet einen Sog, dessen albtraumhaftem Bann man sich kaum entziehen kann. Sie gehört zum Spannendsten der landesweiten experimentellen Theaterszene. Solides Schuhwerk und eine robuste Psyche sollte man freilich mitbringen für die Wanderung durch die Schreckensorte der Freiheitszweifel.

Ca. 90 Minuten, die man selbst gestalten kann. Einen Lageplan bekommt man beim Einlass. Wie lange man wo bleibt, kann man danach frei entscheiden. Gegen 21 Uhr sollte man sich jedoch in der Kantine zum Finale einfinden. E.E.-K.

Samstag, 04.02.2012

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