Nathan der Weise (Theater Bonn, Werkstatt) - kultur 70 - November 2010

Helle Nachtseite der Vernunft: Nathan der Weise in der Werkstatt

Die jungen Liebenden dürfen sich nicht haben, weil sie plötzlich Geschwister sind und Kinder des verschollenen Bruders des muslimischen Sultans und seiner Schwester. Das Christenmädchen verliert seinen geliebten jüdischen Vater, den ein wütender Kreuzritter dem Scheiterhaufen des katholischen Patriarchen angedient hat. Das gute Ende in Gotthold Ephraim Lessings dramatischem Gedicht Nathan der Weise ist ein Konstrukt, das die Religionen unter dem Zwang der Familienbande zusammenführt. Denen vertraut die junge Regisseurin Franziska Marie Gramss ebenso wenig wie dem schlichten Toleranzgedanken, der traditionsgemäß in das Stück hineingelesen wird und den sie rabiat wieder heraus liest.
Das Jerusalem auf der Bühne von Ausstatterin Carolin Mittler ist ein klinisch kühler, unbewohnbarer Kunstraum ohne jeden Realitätswert. Auf einer das ganze Halbrund einnehmenden Bank sitzen mit sichtbarer Spannung die Mitwirkenden und sind sich völlig fremd. In der Mitte thront im weißen Anzug Günter Alt als Übervater Nathan, der sich nur selten aus seiner Pose als Beobachter eines merkwürdigen Geschehens erhebt. Die Ringparabel skandiert er eindrucksvoll auf brüchigen Versfüßen und kommt ganz nach vorn, wenn er gegen Ende berichtet von dem Judenprogrom, bei dem er Familie und Vermögen verlor und in seiner Verzweiflung nur Hoffnung durch ein Kind gewann, das er als sein eigenes aufziehen konnte. Günter Alts Verkörperung des alttestamentarischen Hiob und des einsamen Juden, der aus der allgemeinen Verbrüderung am Ende von Lessings Stück seltsam ausgeschlossen bleibt, geht unter die Haut.
Konstantin Lindhorst ist der einfältige Tempelherr, der vor lauter stammelndem Gutwillen fast explodiert. Ein durchgeknallter feuriger Engel mit kurzen Hosen und Kniestrümpfen, der mit kindlichem Zorn seine Position im Spiel behauptet. Anastasia Gubareva schwirrt als Nathans angenommene Tochter Recha mit Brille und buntem Tüllröckchen herum. Wolfgang Rüter spielt in Badelatschen den nachdenklichen Saladin, der seinen Kopf gern an Nathans Schulter schmiegt. Nina Vodop’yanova in Schnürstiefeln gibt seine kluge Schwes­ter Sittah. Stefan Preiss ist sowohl der querdenkend zappelnde Klosterbruder als auch der starrsinnige Kirchenfürst. Herrlich komisch mit grotesker Turmfrisur und engem rosa Businesskostüm stöckelt Susanne Bredehöft als Nathans Hausangestellte Daja herum, macht sich an den jungen Tempelherrn ran und will eigentlich nur zurück nach Europa.
Alle bewegen sich extrem künstlich, sagen ihren Text wie unter Druck auf und zeigen Gefühle nur als Entäußerung eines verinnerlichten, längst als albern erkannten Systems. Alle handeln wie unter Zwang, sind dabei aber schauspielerisch unheimlich gut, weil sie sich auf pures, riskantes Schauspiel setzen.
Das radikale Inszenierungskonzept ist intellektuell und ästhetisch hochgradig interessant und beweist ein exzeptionelles Regietalent, setzt aber eine solide Kenntnis von Lessings Weltansicht voraus. Man sollte also Nathan der Weise noch mal lesen, bevor man sich auf diese aufregend aseptische und entschieden wahrzunehmende Werkstatt-Lesart einlässt. E.E.-K.

Aufführungsdauer: ca. 2 Std. ohne Pause
Im Programm bis: ?????
Nächste V.: 28.+30.10./7.+9.+17.+19.11.

Donnerstag, 17.11.2011

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