To All Tomorrow’s Parties - kultur 60 - November 2009

Rausch und Ernüchterung: To All Tomorrow’s Parties in der Halle Beuel

Sehr viele Dokumente haben der niederländische Regisseur Ivar van Urk (*1967, im selben Jahr, in dem das von Andy Warhol produzierte, legendäre Debütalbum der Band The Velvet Underground mit der Banane auf dem Cover erschien) und das Inszenierungsteam gesammelt für ihre musikalischen Erinnerungen an die Sängerin Nico und die wilden Zeiten in Warhols New Yorker Factory. Bühnenbildner Niels Kortekaas hat deren coolen, spiegelnden Silberlook in der Halle Beuel nachgebaut, das berühmte Atelier allerdings mit riesigen Spritzen ausstaffiert. Denn Drogenexzesse gehörten zum Alltag der verrückten Künstler-Clique, und als heroinsüchtiger Junkie starb die 1938 in Köln geborene Christa Päffgen 1988 auf Ibiza. Als Nico wurde die blonde Schönheit mit der tiefen Stimme für kurze Zeit Warhols Muse. Van Urk hat aus ihrer Lebensgeschichte keine der auf deutschen Bühnen derzeit beliebten Revival-Shows gemacht, sondern eine witzig traurige Hommage an die schillernden Typen, die Mitte der 60er Jahre das bürgerliche Kunstverständnis revolutionierten.
Bernd Braun mit weißer Perücke und schwarzer Lederjacke (Kostüme: Stephanie Geiger) sieht Andy Warhol zum Verwechseln ähnlich, hängt nölend am Telefon rum, schaut sich gelangweilt sein verrücktes Gefolge an und macht aus einem geräuschvoll gemampften Hamburger geradezu ein Kunstwerk. Die düs­teren Songs beherrscht er ebenso brillant wie die ganze Crew. Die melancholischen Lieder von Velvet Underground waren nie schlichte Ohrwürmer zum Mitschunkeln, sondern komplexe Gebilde voller verzweifelter Tristesse und abgründiger Selbststilisierung. Stimmlich perfekt verkörpert Anastasia Gubareva die junge Nico, die naiv und lebenssüchtig in die turbulente Szene schlitterte, zahllose Affären mit diversen Stars hatte und als einsames Mädchen verschwand. Eine tollkühne Studie über Gebrochenheit und trotzige Würde macht Susanne Bredehöft aus der Rolle der alten Nico. Ganz in Schwarz stolziert sie in klobigen Stiefeln durch ihre vergangenen Träume, erfindet sich merkwürdige Biografien, setzt sich einen Schuss in die zerstochenen Adern und landet elend auf dem Klo. Immer ein bisschen schwankend zwischen Femme fatale und verstörter Romantikerin.
Arne Lenk spielt hinreißend den um seine weibliche Identität kämpfenden Schauspieler Candy Darling und Warhols stets nüchternen Assistenten Paul Morrissey. Ralf Drexler ist der verrückte Poet Gerard Malanga, der mit der Lederpeitsche tanzt und als Papst Ondine einen blasphemischen Auftritt hat. Hendrik Richter ist das Multitalent Billy Name und zelebriert sehr komisch als lesbisch-feministische Valerie Solanas deren Manifest zur Ausrottung der Männer. Solanas beendete 1968 die Factory-Dauerparty mit ihren Pistolenschüssen auf Andy Warhol.
Es gibt raffinierte Filmzitate (u. a. Warhols The Chelsea Girls und Fellinis La Dolce Vita – bei den Dreharbeiten lernte Nico Alain Delon kennen, der wahrscheinlich der Vater ihres 1962 geborenen Sohnes Aaron ist). Mit Joints experimentiert, gespritzt und gekokst wird munter. Auf einer langen Party auch getanzt. Vor allem aber unter der musikalischen Leitung von Michael Barfuß großartig gesungen. Die vierköpfige Band lässt’s dazu schon mal richtig krachen. Mit Lou Reeds trotzigem Walk on the Wild Side verabschiedet sich das Ensemble. Dass der kleine Ari – Nico verpasste ihrem Baby Drogen zum Einschlafen und hielt einen Camembert für ein passendes Kinder-Mitbringsel aus Paris – dabei zur Schnapsflasche greift (Komasaufen der heutigen Party-Kids!) wirkt ein wenig aufgesetzt. Abgestandene Warnungen vor Rauschmitteln sind nicht nötig in diesem ernüchternden, aber immer noch faszinierenden Universum verlorener Existenzen. E.E.-K.
Für sensible Hörorgane gibt es kostenlose Ohrenstöpsel. Für empfindliche Gemüter die an amerikanischen und englischen Theatern inzwischen rechtlich vorgeschriebene Warnung: “The play contains explicit language“.

Aufführungsdauer: ca. 2 Std., keine Pause
Im Programm bis: ?????
Nächste Vorstellungen: 30.10./8.11./15.11./21.11./27.11./6.12./12.12.09

Dienstag, 09.02.2010

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