Die Marquise von O. - kultur 62 - Januar 2010

Gedankenstrich mit Folgen: Die Marquise von O. in der Pathologie

Die verwitwete Marquise von O…, „eine Dame von vortrefflichem Ruf, und Mutter von mehreren wohlerzogenen Kindern“, ließ „durch die Zeitungen bekannt machen: dass sie, ohne ihr Wissen, in andere Umstände gekommen sei, dass der Vater zu dem Kinde, dass sie gebären würde, sich melden solle; und dass sie, aus Familienrücksichten, entschlossen wäre, ihn zu heiraten.“ Mit diesem allen gesellschaftlichen Konventionen widersprechenden Eklat, dem eine unerhörte Begebenheit vorausgeht, beginnt Heinrich von Kleists 1808 veröffentlichte, vielfach dramatisierte und verfilmte Novelle, die der türkischstämmige Regisseur Aydin Isik jetzt mit drei Schauspielerinnen im „Theater die Pathologie“ inszeniert hat. Es ist eine Erzählung von Scham und Schande, verletzter weiblicher Ehre und kurz zu weit gegangener männlicher Ritterlichkeit. Bei kriegerischen Auseinandersetzungen fiel die Dame in die Hände russischer Soldaten. Deren Offizier rettete sie vor der drohenden Vergewaltigung und trug die vor Schrecken Bewusstlose in ein sicheres Zimmer. „Hier – traf er, da bald darauf ihre erschrockenen Frauen erschienen, Anstalten, einen Arzt zu rufen…“. Bei Kleist deutet nur ein Gedankenstrich das in der Zwischenzeit Geschehene an.
Isiks Inszenierung folgt dem Kleistschen Erzählgestus, der „mit äußerster Geschicklichkeit kurz und knapp und mit einer gewissen frauenärztlichen Objektivität“ (Theodor Fontane) die Konsequenzen des heimlichen, einseitigen Fehltritts vorführt. Der jungen Mirka Flögl gelingt dabei ein anrührendes Porträt der tapferen Marquise, deren Gefühle völlig in Verwirrung geraten, wenn sie nach langer Suche den Vater ihres Kindes erkennt. Einen Las­terhaften hätte sie als Mann akzeptiert, einem als Schutzengel verehrten ‚Teufel’ gibt sie ihre Hand nur unter dem Zwang der Verhältnisse. Eine feine Studie dieses Verbrechers wider Willen und reumütigen Ehrenmanns liefert Anna Hilgedieck, die auch sonst den Part der männlichen Frauenversteher übernimmt. Karin Kroemer spielt sympathisch die mütterlich realistische Obristin, die das zweifelhafte Glück ihrer Tochter und die angeknackste Familienehre herzhaft befördert.
In Kleists Novelle fließen bis zum seligen Ende unzählige heiße Tränen. Isiks Inszenierung nimmt den Gefühlsüberschwang vorsichtig zurück zugunsten der filigranen Struktur der Beziehungen. Über die heiklen psychologischen Tiefendimensionen legt sich freilich völlig schmerzlos der Schleier der romantischen Idylle. Textnah und störungsfrei. Für Einsteiger in Kleists narrative Kunst bestens geeignet. E.E.-K.

Aufführungsdauer: ca. 65 Minuten
Im Programm bis: ????

Donnerstag, 17.03.2011

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