Der Kurschattenmann - kultur 96 - Mai 2013

Der Kurschattenmann von René Heinersdorff im Contra-Kreis-Theater: Erfinderisch

Ab einem gewissen Alter sollte man die harte Wirklichkeit ein wenig korrigieren. Man muss das nicht gleich Lügen nennen. Gut erfundene Geschichten helfen doch bestens über das depressive Grau verflossener Ehen und sonstiger Widrigkeiten hinweg. Und was sind alle teuren Wellness-Programme gegen ein bisschen Zärtlichkeit und warme Worte? Zugegeben: Die Masche mit dem 500-Euro-Schein, den niemand wechseln kann, ist ziemlich durchsichtig. Die reizenden Damen zücken aber gern ihre Kreditkarte, wenn der charmante Ulrich sie zum romantischen Essen einlädt beim schicken Italiener, der unzweifelhaft den besten Jahrgangsgrappa in ganz Bad Pyrmont kredenzt.
Ulrich ist ein Kurschattenmann. Mit der gleichnamigen Komödie hat René Heinersdorff, Leiter des Düsseldorfer Theaters an der Kö und regelmäßig zu Gast am Bonner Contra-Kreis-Theater, nicht nur das wunderbare alte Wort „Kurschatten“ wiederbelebt, sondern auch ein „Sanatorium“ (Untertitel) geschaffen, in dem Lachen die beste Therapie ist. Das Schönste an der Sache ist nämlich, dass die wohlhabenden älteren Damen, die in der kleinen niedersächsischen Kurstadt bei Hameln Heilung suchen, viel zu schlau sind, um sich von einem Rattenfänger flachlegen zu lassen. Die Golden Girls glauben also nicht wirklich an das Blaue vom Himmel.
Grashüpfer, Seepferdchen oder Flamingo – bei den Kosenamen ist Ulrich recht erfinderisch. Auch bei der Konstruktion seiner eigenen Identität zeigt er beachtlichen Einfallsreichtum. Der Banker, spezialisiert auf „konvergente Ausgleichsfinanzierung“, ist beispielsweise eine sehr hübsche Alternative zum genialen Baumeister mit den „wassergetragenen Fundamentsäulen“. Starschauspieler Volker Brandt (im wirklichen Leben Jahrgang 1935) verkörpert quicklebendig den wortgewandten Lügner, der selbst um einen tauben Daumen noch so fantastische Erzählungen ranken kann, dass alle weiblichen Herzen in Wallung geraten.
Kaum zu übertreffen ist indes das ansehnliche Damenquartett, das sich kokette erotische Beinfreiheit noch ebenso locker leisten kann wie die raffinierten feuerroten Kostüme von Romy Cordes. Letztere spielen eine durchaus tragende Rolle in der pfiffigen Inszenierung von Horst Johanning. Wobei die Regie bei der Entlarvung des Verführers eindeutig Oda gehört, die über eine solch höchst erstaunliche Biografie verfügt, dass es selbst einem versierten Kurschatten beinahe die Sprache verschlägt.
Poker oder Piano ist keine Frage mehr, wenn Simone Rethel sich als Dame von Welt auf dem Flügel räkelt.
Über den allfälligen Zickenkrieg sind die Weiber hier sowieso längst raus und deshalb sehr kooperationsfähig. Christine Schild als zuwendungsbedürftige, unglücklich verheiratete Alice bewahrt in jeder prekären Situation die Haltung einer kurzfristig unbesonnenen Geschäftsfrau. Die zierliche Ingrid Steeger läuft als psychisch angeschlagene Edith zu großer Form auf, überlässt im pinkfarbenen Trainings-Anzug ihr Klimbim-Image einer voluminösen TV-Kollegin und spielt sehr zartfühlend die leicht verhuschte Witwe, die in der Klinik ein dauerhaftes Glück sucht. Sibylle Nicolai ist die eigentlich durch nichts mehr zu erschütternde, strenge Krankenschwester Isabel, deren geistiger und familiärer Horizont fast bis Paderborn reicht, weshalb sie schon seit über einem Jahrzehnt auf den Stapellauf ihres Traumschiffes in Papenburg wartet, während Kapitän Ulrich sein Seemannsgarn spinnt.
Im Grunde wollen sie alle nur gegen die Stürme des Lebens anspielen und tun das in einem selbstironisch amüsanten Pointen-Reigen perfekt. Sicher ist: Erfundene Geschichten sind die Wirklichkeit des Theaters. Es lügt im außermoralischen Sinn und spielt hier blitzgescheit mit dem harten Wahrheitskern: Alle auf der Bühne sind über 60, aber so lebenslustig, dass es auch Jüngere anstecken könnte. Überzeugter Beifall für ein fabelhaftes Team. E.E.-K.

Spieldauer ca. 2 Stunden inkl. einer Pause
Die nächsten Termine:
Bis 12.05. täglich außer Montag.
Am 5.05. - 12 Uhr liest Simone Rethel im Contra-Kreis-Theater aus ihrem Buch:
Sag nie, Du bist zu alt.

Dienstag, 12.11.2013

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