Ich sehe was, was du nicht siehst - kultur 88 - Juli 2012

Ich sehe was, was du nicht siehst im Jungen Theater: Keimende Triebe in Facebook-Zeiten

Die Generation Facebook hat es möglicherweise schwerer mit dem Erwachsenwerden und der Beziehungsfähigkeit als frühere Jugendliche. Es mangelt nicht an Aufklärung, sexualisierte Werbung gibt’s an jeder Straßenecke, und über die Bildschirme flackert öffentlich so ziemlich alles, was früher hinter verschlossenen Türen stattfand. Jedes Kind kann sich Pornos aufs Handy laden. Gewarnt wird vor der sexuellen Verwahrlosung und der Reduktion auf rein physischen Leistungsdruck. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung kommt zu anderen Schlüssen: Die heutigen 13- bis 17-jährigen handelten sexuell verantwortungsbewusster als die Vorgängergeneration. Echte Partnerschaften und Gefühle seien ihnen wichtiger als Gangbang-Partys und Hardcore-Erfahrungen.
Wie gehen junge Menschen mit dieser Reizüberflutung um? Wo liegen die Grenzen, wenn es kaum noch Tabus gibt? Vor allem: Welche Grenzen darf man nicht überschreiten, um den Respekt vor dem anderen zu bewahren? Am Jungen Theater Bonn haben Jugendliche selbst zusammen mit dem Regisseur Moritz Seibert (auch verantwortlich für das Bühnenbild) ein Stück zum Thema entwickelt. Das garantiert über den Plot hinaus sprachliche Authentizität, aber auch die Sensibilität, mit der die Betroffenen ihre Probleme präsentiert sehen möchten. Leon Döhner und Carlo Hajek haben sich ihre Dialoge selbst auf den Leib geschrieben, am Text mitgewirkt haben aus dem Nachwuchs-En­semble noch Jannik Beckonert, Gilda Masala und Marie Bendig, die jedoch nicht auf der Bühne mitwirken. Alle waren beteiligt bei dem auf ähnliche Weise erarbeiteten, 2011 uraufgeführten Stück Wenn ich Du wär, dessen Erfolg den JTB-Intendanten Seibert ermutigte, noch einen Schritt weiterzugehen. Ich sehe was, was du nicht siehst verzichtet auf einen komödiantischen Handlungsstrang und setzt auf die psychologische Komplexität der Figuren. Die Rollen (alle jungen Schauspieler sind Jahrgang 1996/97) wurden deshalb nicht wie sonst üblich doppelt besetzt.
Zu lachen gibt es natürlich einiges, wenn die beiden Mädchen vergessen, Skype auszuschalten und die Jungs mithören können, was sie sich so fürs „erste Mal“ erträumen. Emily (Bianca Lehmacher) denkt da besonders an ihr bevorstehendes Schuljahr in den USA und den per Mail schon besichtigten Sohn ihrer Gastfamilie. Ein bisschen Erfahrung vorher könnte nicht schaden, mit dem hübschen Wuschelkopf Felix (Victor Pasztor) wäre das durchaus vorstellbar. Die kokette Clara (Mascha von Kreisler, zum ersten Mal in einer professionellen Produktion zu erleben), die gern knappe Shorts trägt (Kostüme: Brigitte Winter), möchte es romantisch. Ein Junge, der ihr Gedichte schreibt, wäre toll. Finn (Carlo Hajek), bis über beide Ohren verknallt in Clara, macht sich also gleich ans Werk, was ihm sein bester Freund Luca (Leon Döhner) gründlich versaut.
Ein gemeinsamer Wochenend-Ausflug zum Ende des Schuljahrs, das die Trennung ihrer Lebenswege markiert, soll einfach Spaß bringen. Zelten, Schwimmen, Chillen an einem einsamen Waldsee und vielleicht noch etwas mehr. Sekt und Bier haben sie reichlich dabei, ein prickelndes Flaschenspiel am Lagerfeuer könnte zum Ausprobieren dessen animieren, was sie bisher noch nicht wagten. Für Kondome ist gesorgt, blaue Pillen fanden sich zur Erheiterung des Publikums in Opas Wander-Ruck­sack, etwas Gras hat Felix stets griffbereit. Bis Emily nicht mehr mitspielen will und plötzlich einen fremden Mann im Gebüsch sieht. Sie hat Angst und will nur noch nach Hause. Die Handys haben keinen Empfang, was aber nur der Anfang einer Albtraumnacht ist, aus der einer vielleicht nicht mehr erwachen wird.
Eros hat sie durcheinander gewirbelt und ernüchtert. Luca hat sich geoutet und Finn leidenschaftlich geküsst, der mit Clara ins Zelt wollte. Die Grenzen zwischen Freundschaft und Liebe sind gefallen. Die Rätsel der Sexualität bleiben bis auf weiteres ungelöst.
Hier erschießt sich kein Schulversager mehr wie in Wedekinds vor hundert Jahren von der Zensur endgültig für die Bühne freigegebenem Frühlings Erwachen, hier stirbt keine Wendla unter den Händen einer Engelmacherin. Es gibt auch keine grotesk verbohrten Eltern und weltfremden Schulkollegien. Alles ist erlaubt und deshalb viel komplizierter: Es fordert Entscheidungen, denen man sich stellen muss. In der neuen JTB-Inszenierung zeigen die jungen Akteure das sehr nachdenklich und bei aller Coolness emotional höchst verletzlich. Natürlich gibt es auch keinen vermummten Herrn mehr als Begleiter ins große Leben wie bei Wedekind. Aber eine verständnisvolle Ärztin (Anja von der Lieth als einzige erwachsene Profi-Schauspielerin), die begreift, dass etwas Entscheidendes passiert ist bei dem Sommernachtstraum, der zum Horrortrip wurde. Ein Sonderlob für die filmreife Begleitmusik verdient Serge Weber.
Freundschaft, Liebe, Sex: Für pubertierende Jugendliche seit eh und je ein wichtiges Thema und hier sehr mutig angepackt. Auch für Erwachsene sehenswert und mit überzeugtem Premierenbeifall belohnt. E.E.-K.
Spieldauer ca. 2 Stunden inkl. einer Pause
Wiederaufnahme am 19.09.12
Geeignet für Publikum ab (nicht unter!) 14 Jahren.

Dienstag, 06.11.2012

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