Eine Familie - kultur 79 - Oktober 2011

Eine Familie von Tracy Letts in der Werkstatt: Fürchterlich komische Familienbande

Beverly Weston hat sich aus einfachsten Verhältnissen hochgearbeitet zum Universitätsprofessor und anerkannten Dichter. Und zum lebensmüden „Weltklasse-Alkoholiker“. „Das Leben ist sehr lang…“ zitiert er mit dem Whiskyglas in der Hand aus T.S. Eliots Gedicht The Hollow Men. Beverlys Bühnenexistenz ist kurz: Er macht sich davon, nachdem er für den verwahrlosten Haushalt die junge Indianerin Johnna engagiert hat. Die Westons sind wohlhabend und völlig verkommen. In der Augusthitze des amerikanischen Mittleren Westens hocken sie bei geschlossenen Fensterläden in ihrer muffigen Villa (Bühne: Damian Hitz) und pflegen zynisch ihre Verzweiflung.
Eine Familie (Originaltitel August: Osage County) heißt kurz und bündig das 2007 in Chicago uraufgeführte und mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete Drama des in Oklahoma aufgewachsenen Autors Tracy Letts (*1965), das derzeit erfolgreich auf etlichen deutschen Bühnen zu erleben ist. Es steht in der Tradition der amerikanischen Realisten wie Eugene O’Neill, Edward Albee und Tennessee Williams. In der Werkstatt hat Ingo Berk (zuletzt führte er in den Kammerspielen Regie bei Katze auf dem heißen Blechdach) die bitterböse Familienfarce ohne irgendwelche Regiemätzchen inszeniert. Er nimmt sich eher zurück hinter den Figuren, die er nicht monströser oder lächerlicher macht als sie sind. Denn es ist ein großartiges Ensemblestück, das durch die Nähe zum Publikum noch an Intensität gewinnt.
Rolf Mautz spielt mit langer weißer Künstlermähne den versoffenen 69jährigen Intellektuellen, der sich angesichts des Familienelends ersäuft und damit eine dramatische Enthüllungsmaschinerie von Ibsenschen Dimensionen in Gang setzt. Später taucht Mautz als Charlie Aken, Schwager des Verblichenen, wieder auf und gibt dessen dümmlicher Jovialität einen Beigeschmack von Aggression. Tanja von Oertzen ist mit beklemmender Unmittelbarkeit zwischen Lebens- und Todesangst Beverlys tablettensüchtige krebskranke Gattin Violet. Eine gespenstisch erstarrte Herrscherin über den Familienclan, die listig die Strippen zieht im Geflecht aus Eitelkeit, Hass und Missgunst. Geschmacksfragen beim angemessenen Outfit (Kostüme: Kathrin Stadeler) werden zu spitzzüngigen Kriegserklärungen, Lebensängste zu fiesen Machtspielen.
Violets Schwester Mattie Fae Aken (großartig mit überdrehtem Neureichen-Gehabe: Susanne Bredehöft) passt nicht ins geistreiche Milieu, was Beverly einst offenbar recht anziehend fand. Weshalb es auch ein Problem gibt bei der heimlichen Beziehung des ewigen Losers Little Charlie Aken (herrlich vertrottelt als 35-jähriges Riesenbaby: Oliver Chomik) mit Ivy, der mittleren Tochter von Bev und Violet. Ivy (als leicht verhuschtes Mauerblümchen: Nina V. Vodop’yanova) ist als einzige in der Nähe der Eltern geblieben, verdient ihren Lebensunterhalt als Lehrerin und träumt von der Flucht in eine bessere Zukunft. Karen, die vierzigjährige jüngste Tochter (Birte Schrein als blonde Nervensäge), scheint ihr Glück gefunden zu haben in dem windigen Geschäftsmann Steve Heidebrecht (mit aasigem Dauergrinsen: Stefan Preiss). Dass der sich an die 14-jährige Jean (als freche, Marihuana rauchende Göre mit unverschämtem Sex-Appeal: Philine Bührer) heranmacht, bringt die Situation zum Überkochen.
Das Mädchen ist die reichlich ungezogene Tochter von Barbara und Bill Fordham. Letzterer (kühl vernünftig und sprachgewandt: Hendrik Richter) hat sich gerade wegen einer seiner Studentinnen von seiner Gattin abgewandt. Barbara, die älteste Weston-Tochter, versucht mit aller Kraft die Fassade solider Bürgerlichkeit aufrecht zu erhalten. Tatjana Pasztor spielt sie mit fabelhafter Energie. Sie wird am Ende einsam die Herrscherinnenrolle übernehmen. Den Zynismus ihres Vaters beherrscht sie bald, beim Saufen übt sie noch. Ein Funken Sentimentalität glimmt auf in Gegenwart des braven Sheriffs (als sanfter Riese: Günter Alt), ihres einstigen Boy-Friends. Der bringt schließlich die traurige Nachricht vom Freitod des Familienoberhaupts. Beim quälend langen Warten haben sie sich belauert und belogen. Beim Leichenschmaus beginnt der echte Nahkampf aller gegen alle. Da nützt auch das alkoholbeflügelt geständnisselige Zusammenrücken der drei Schwestern auf dem Sofa nichts mehr. Sie sind verloren, enttäuscht und entsetzlich komisch.
Die flotten Dialoge im wüsten Familienkäfig haben einen bitterbösen Witz, der über das ganze Gemeinheitspanorama hinweg die Spannung trägt. Nur das indianische Hausmädchen Johnna (geheimnisvoll mit feiner Ironie: Maria Munkert) hält sich bedeckt im Kriegsgetümmel der weißen Südstaaten-Upperclass. Sie braucht den Job, kocht perfekt und räumt gelegentlich die Gefechtsreste weg. Ein merkwürdig humanes Element in diesem langen, aber nie langweiligen Selbstzerfleischungs-Szenario.
Das fantastisch gute Schauspiel-Ensemble macht das zum Erlebnis und wurde bei der Premiere kurz vor der Sommerpause mit verdientem großem Applaus belohnt. E.E.-K.

******
Spieldauer ca. 3¼ Stunden inkl. zwei Pausen.
Die nächsten Aufführungen sind am
6.10. // 11.10. // 19.10. // 22.10. // 3.11. / 11.11.
. Wegen der Überlänge beginnen die Vorstellungen anders als in der Werkstatt üblich, bereits um 19.30 Uhr.

Samstag, 04.02.2012

Zurück

Merkliste

Veranstaltung

Momentan befinden sich keine Einträge in Ihrer Merkliste.


Letzte Aktualisierung: 24.04.2024 09:01 Uhr     © 2024 Theatergemeinde BONN | Bonner Talweg 10 | 53113 Bonn