Hair - kultur 78 - Oktober 2011

Hair von Gerôme Ragni, James Rado (Text), Galt Macdermot (Musik) in der Oper: Mitreißende Blütenträume

Das brave amerikanische Kleinbürgersöhnchen Claude Hooper Bukowsky wird zum Militär eingezogen und verbringt die letzten Tage vor seinem Einsatz in Vietnam mit seinen ausgeflippten Freunden. Mehr passiert eigentlich nicht in dem Musical Hair, das 1967 seinen Siegeszug um die Welt antrat. Die Inszenierung des versierten Musiktheater-Regisseurs Philipp Kochheim (einen Tag vor der Bonner „Hair“-Premiere am 11.September kam am Staatstheater Kassel erfolgreich seine neue Bohème heraus), nimmt die offene Form der Handlung geschickt auf. Es ist eine schwungvolle Revue, die das Lebensgefühl der Hippie-Bewegung der späten 1960er Jahre lebendig werden lässt.
Allerdings nicht nur naiv unbekümmert: Historische Aufnahmen von John F. Kennedy (ermordet 1963) und seinem Bruder Robert (ermordet 1968) werden ebenso eingespielt wie die große Rede „I have a dream“ von Martin Luther King (ermordet 1968). Blutverschmiert huscht die Schauspielerin Sharon Tate, die 1969 von der Hippie-Family um Charles Manson umgebracht wurde, über die Bühne. Ansonsten tummelt sich die muntere Flower-Power-Clique um den rotzfrechen Ex-Studenten Berger (brillant: der britische Musical-Star Henrik Wager, der als „Burger“ auch schon mal zwischen zwei Brötchenhälften landet) aber vergnügt bei Sex- und Drogen-Experimenten. Der rebellische Charme des friedlichen Aufstands gegen die überkommenen Werte bleibt ständig spürbar. Getragen wird er vor allem von der fetzigen Musik des Komponisten Galt MacDermot, die Michael Barfuß mit seiner Band aus dem Orchestergraben temperamentvoll abrocken lässt. Bei Hits wie „Aquarius“, „Hare Krishna“ und „Ain’t Got No“ geht im Zuschauerraum ohnehin die Post ab.
Buchstäblich an die Decke gehen möchte Claude (perfekt als schüchterner Sonnyboy, der vor den kessen Mädels am liebsten Reißaus nähme: Markus Schneider) angesichts seiner konservativen Eltern (herrlich komisch: Sonja Mustoff und Carlo Ghirardelli). Das Bühnenbild von Thomas Gruber mit seinen ständig bewegten hohen weißen Wänden, an denen fast die ganze Truppe häufig hochrennt, wirkt zwar ein wenig steril, bietet aber Raum für die rasante Choreographie von Alonso Barros und die mit tollkühnem Tempo herumwirbelnde große Compagnie. Ein beträchtlicher Teil wurde für die Bonner Aufführung (eine Koproduktion mit dem Staatstheater Kassel und dem Nationaltheater Mannheim) neu engagiert. Unter Kennern gilt der Bonner Cast als der beste, was niemanden verwundern wird, der die fabelhaft guten Sänger und Tänzer erlebt hat. In den leuchtend bunten Kostümen von Bernhard Hülfenhaus entfachen sie einen Farben- und Bewegungsrausch, der auch ohne LSD und Haschisch seine Wirkung tut.
Man kann gar nicht alle nennen, die hier ganz individuelle Figuren entwickeln und mit Energie und Witz die Zeit der Studentenrevolten, des lustvollen Durchbrechens sexueller Tabus und des Abschieds von allen Autoritäten feiern. Die in der Musical-Szene heiß begehrte Maricel (in Bonn war sie 2007/08 eine der Rheintöchter im „Ring-Musical“) gibt die politisch aufgeweckte Sheila. Als Dionne beeindruckt die Südafrikanerin Tertia Botha (Gewinnerin der TV-Casting-Show „Popstars“ 2003) mit großer Blues-Stimme ebenso wie die Albanerin Miriam Cani (ebenfalls ein „Popstars“-Gewächs) als quirlige Cecilia. Der Amerikaner Alvin Le-Bass ist geradezu eine Idealbesetzung für den farbigen Hud, der als „Coloured Spade“ gegen die Rassendiskriminierung protestiert. Christof Maria Kaiser spielt wunderbar komisch den leicht durchgeknallten Woof.
Nationalstolz, Dollars, Arbeit – alles wird mit vielen pfiffigen Einfällen fröhlich veralbert. Manchmal wirkt die heitere Anarchie fast wie ein spätpubertärer Kindergeburtstag, bei dem die ganze Bande über die Stränge schlägt. Regisseur Kochheim verzichtet mit guten Gründen auf vordergründige Aktualität und präsentiert das Stück konsequent als Bilderbogen aus der Entstehungszeit der Popkultur. Im Nebel der ‚bewusstseinserweiternden’ Drogen tauchen etliche Stars und Vordenker des neuen Zeitalters auf, wie z.B. Andy Warhol, der mit seiner Kamera kurz schüchtern durch die Szenerie schleicht. Malcolm X wird ebenso zitiert wie Rudi Dutschke und John Lennon.
Die langen Haare, die dem Musical seinen Namen gaben, sind längst kein Skandal mehr, der heutige Mann von Welt trägt modische Glatze. Aus Sonnenblumen wurden Energie spendende Windräder, Sex ist ein Medienhype und kommerzialisiert wie alle hippen Pop-Events der Spaßgesellschaft, Freunde trifft man im globalen Netz, Piraten gewinnen bei der Politikaufmischung Mehrheiten, der Weltfrieden ist immer noch weit entfernt. Aber der Funken des einstigen lustvollen Aufbruchs unter dem Sternzeichen des Wassermanns glüht weiter. Trotz aller hier nicht verschwiegenen Enttäuschungen: Claude zieht die Militäruniform an und bricht im Maschinengewehr-Gewitter zusammen. Ein kleiner Vietcong schneidet ihm die Kehle durch. Über seiner Leiche stimmen die Freunde leise melancholisch noch mal ihr „Let the Sun­shine in“ an.
Nostalgie in Hochform mit immer noch zündenden Songs und einem Drive, der das Publikum aller Generationen am Ende von den ­Sitzen reißt. E.E.-K.

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Spieldauer ca. 2½ Stunden inkl. einer Pause.
Im Programm bis 13.05.2012
Die nächsten Termine:
11.10.11 // 23.10.11 // 11.11.11 // 25.11.11 //
26.11.11 // 16.12.11 // 23.12.11 // 26.12.11 // 30.12.11 // 31.12.11

Samstag, 04.02.2012

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