Die Ratten - kultur 95 - April 2013

Die Ratten von Gerhart Hauptmann in den Kammerspielen: Illusion und Wirklichkeit

Den Möchtegern-Schauspieler Erich Spitta haben sie in ein Rattenkostüm gesteckt und gehen recht unsanft mit dem armen Nagetier um, während sie alle Paulines Satz ins Mikro brüllen oder röcheln. „Ick spring im Landwehrkanal und versaufe“. Auf dem eisernen Vorhang markieren Pfeile, wer welche Rolle spielt in Gerhart Hauptmanns Tragikomödie Die Ratten. Am Ende wird wie im Kino ein Abspann laufen, der die nüchterne Wirklichkeit der Schauspieler benennt. Die meisten sind „arbeitsuchend“ ab dem 1.August 2013. Das soll keine platte, Mitleid heischende Geste sein in der Inszenierung von Lukas Langhoff, der im Gegensatz zu den gegenwärtig in Köln laufenden „Ratten“ in der Regie von Karin Henkel (eingeladen zum Berliner Theatertreffen) nicht das Theater ins Zentrum ­rückt, sondern die Realität.
Sein Berlin ist laut, leistet sich nach dem ohrenbetäubenden Beginn aber auch viele leise, intime Momente. Die Musik stammt von dem deutsch-türkischen Rapper Volkan T., der im schrillen Schwulen-Outfit seine eindrucksvollen Tattoos präsentiert und den Hausmeister Quaquaro wie einen türkischen Kreuzberger Türsteher spielt. Langhoff, geprägt von Frank Castorfs Volksbühne Berlin, sucht das Authentische der Figuren und lässt sie gern auf ihre Weise reden. Hauptmanns 1911 uraufgeführtes Drama liefert den Stoff für eine aktuelle sozialkritische Sicht der Verhältnisse. Den künstlichen Berliner Dialekt des Textes hat er vermischt mit heutigem Sprachgebrauch und lässt die Schauspieler gelegentlich aus der Rolle fallen, um sie als quasi ‚echte‘ Menschen vorzuführen. Das funktioniert, weil es die Brüche der Figuren und ihrer Aktionen erweitert. Es geht freilich auf Kosten von Hauptmanns Handlungslogik und der Tragik des Schick­sals der Frau John. Mitleid kommt kaum auf mit all den verlorenen Großstadtmenschen, die in einer zusammenhanglos erscheinenden Welt aneinander vorbei leben und reden.
Die rattenverseuchte Berliner Mietskaserne hat Bühnenbildnerin Regina Fraas auf ein Gerüst mit allerhand Treppen und Podesten reduziert. Da turnen sie im Kampf jeder gegen jeden herum, haben keinen geschützten Platz und große Angst um ihr hilfloses bisschen Glück. Allen voran die Putzfrau Jette John, die von einer kleinbürgerlichen Existenz träumt und nach dem Verlust ihres ersten Sohnes unbedingt wieder Mutter werden möchte. Susanne Bredehöft gelingt es eindrucksvoll, dieser vom Leben gebeutelten, kettenrauchenden, bei aller Magerkeit doch sehr starken Frau eine Gefühlsbandbreite zu geben, die zumindest die Sehnsucht nach Geborgenheit erahnen lässt. Gehetzt wird sie von der Illusion, ein Kind könne ihre kriselnde Ehe retten. Verbissen verteidigt sie das gekaufte Baby, auf dem all ihre Hoffnungen ruhen. Im minimal zu eleganten Overall mit schwarzweißem Missoni-Muster (Kostüme: Ines Burisch) hockt sie verzweifelt zwischen allen Stühlen und wird sich am Ende eher beiläufig in den Tod stürzen.
Eine große Stütze ist ihr auswärts als Mauerpolier arbeitender Gatte nicht. Falilou Seck, der ab der nächsten Saison am Berliner Maxim Gorki Theater engagiert ist, lässt bei aller Robustheit aber doch eine leise Sensibilität durchscheinen. Mit dem ganzen schmuddeligen Betrug will er freilich nichts zu tun haben und stellt sich lieber ausgiebig unter die Dusche. Mit Frau Johns kleinkriminellem Brutalo-Bruder Bruno (Niko Link mit wüster Punk-Frisur) will niemand was zu tun haben. Dass die „russische Schlampe“ Pauline (bei Hauptmann das polnische Dienstmädchen Pauline Piperkarcka) dran glauben muss, verstört kaum jemanden. Anastasia Gubareva im grünen Glitzerfummel läuft das Blut die nackten Beine herab, wenn ihre Pauline auf dem Dachboden niederkommt. Später will diese das Baby wiederhaben, wird von Quaquaro mit einem Kanister Benzin traktiert und singt herzzerreißend ein russisches Klagelied.
Frau John versucht, ihr das todkranke Baby der drogensüchtigen Selma Knobbe (gespenstisch: Maria Munkert) unterzuschieben. Da hilft auch der tolle ‚Milchapparat‘ des verkrachten Theaterdirektors Hassenreuter nichts mehr, der stolz eine spritzende Gummibrust hervorzaubert und mit einem langen Vortrag über Gebärneid prunkt. Stefan Preiss spielt mit strähniger Langhaar-Perücke den heruntergekommenen, Phrasen dreschenden Bildungsbürger, der mit seinen theoretischen Ergüssen die Wirklichkeit der vor seinen Augen ablaufenden menschlichen Tragödie gründlich verfehlt. Das ist mindestens so komisch wie seine Tiraden über den Niedergang des Theaters. Was die kokette Schauspielerin Alice Rütterbusch an diesem einstmals wohl einflussreichen Bühnenherrscher findet, mag der Regie-Himmel wissen. Johanna Wieking darf sich als fesches Wiener Mädel jedenfalls sehr hübsch auf dem Bühnengerüst räkeln und dabei eine Sissi-Suada zum Besten geben.
Der talentlose Pastorensohn und Schauspielaspirant Spitta (Simon Brusis) muss nicht nur unter seinem Rattenkostüm schwitzen, sondern darf statt Schiller auch mal Büchner zitieren. Hassenreuters Tochter Walburga (Elmira Bahrami) gibt im eleganten weißen Anzug eine lässig androgyne Intellektuelle, die auf der Geige ein paar melancholische Töne in den Punkrock-Lärm mischt.
Wie bei Ibsens/Langhoffs Volksfeind, der im vergangenen Jahr das Theater Bonn beim Berliner Theatertreffen vertrat, gibt es allerhand Klamauk und alberne Scherze. Richtig rattenscharf wird die Sache dadurch nicht, sondern verläppert eher im Ungefähren. Genau diese klägliche Komik, die die Ebene des Theaters genial grotesk mit der rauen Realität verknüpft, entspricht jedoch Hauptmanns unverwüstlichem Stück. Insofern ist diese desillusionierende Lesart durchaus spannend. Zumal das Schauspiel-Ensemble entschieden ansehnlich agiert und beweist, wie gut es gerade als eine Art Familie kurz vor dem Zerfall zusammen wirken kann. Etwas ratloser Premierenbeifall.
E.E.-K.

Spieldauer ca. 2 Stunden, keine Pause
Die nächsten Termine:
30.04. / 4.05. / 12.05. / 16.05.13

Dienstag, 01.10.2013

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