Die tote Stadt - kultur 45 - März 2008

Morbider Rausch des Gewesenen - Die tote Stadt von Erich Wolfgang Korngold in der Oper

Die Musik der Oper Die tote Stadt von Erich Wolfgang Korngold, die inzwischen als einziges seiner Bühnenwerke wieder einen festen Platz im internationalen Repertoire hat, ist von geradezu betörender Schönheit. Unter der musikalischen Leitung von Erich Wächter entfaltet das Beet­hovenorchester Bonn im Opernhaus einen subtilen Klangfarbenrausch, der die morbide Geschichte von der scheinbaren Aufhebung der Vergangenheit ungemein vielschichtig ausleuchtet. Generalintendant Klaus Weise hält sich in seiner Inszenierung eng an die literarische Vorlage, den 1892 erschienenen symbolistischen Roman Bruges la Morte des heute fast vergessenen belgischen Dichters Georges Rodenbach. Das vom Schwulst des späten Jugendstils nicht ganz freie Libretto schrieb unter dem Pseudonym Paul Schott der ehrgeizige Vater des Komponisten, der einflussreiche und gefürchtete Wiener Musikkritiker Julius Korngold. Gewiss eine schwierige Konstellation, die die folgende Hinwendung des Sohnes zur ‚leichten’ Muse auch als Versuch der Befreiung von dem übermächtigen Vater begreifbar macht.
Der höchst begabte junge Komponist war 23 Jahre alt, als sein erstes abendfüllendes Werk am 4. Dezember 1920 gleichzeitig in Hamburg und Köln uraufgeführt wurde und danach einige Jahre lang zu den meistgespielten Opern weltweit gehörte. Die Schulung an den Klangsprachen von Wagner, Mahler, Richard Strauss und seinem Lehrer Zemlinsky ist unverkennbar. Mariettas melancholisches Lied „Glück, das mir verblieb“ hat operettenhafte Ohrwurm-Qualitäten. Ein Genre übrigens, das dem späteren Filmmusik-Komponisten und zweifachen Oscar-Preisträger durchaus nahe lag. Als Korngold im November 1957, also vor ziemlich genau 50 Jahren, in Hollywood starb, war sein Stern in Europa fast erloschen. Ob ihn die Entwick­lung der Musik im 20.Jahrhundert überholte oder ob die Verfemung durch die Nazis seine glanzvoll begonnene Musiktheaterkarriere beendete, mag strittig sein. Unstrittig ist die hohe eigenständige musikalische Qualität der Oper Die tote Stadt längst. Und ebenso fraglos gehört die mit begeistertem, langem Premierenbeifall bedachte neue Bonner Inszenierung bereits jetzt zu den Meilensteinen ihrer Aufführungsgeschichte.
Der bekennende Cineast Weise verzichtet anders als Günter Krämer vor knapp einem Jahrzehnt in Köln auf filmische Anspielungen. Er erzählt einen phantastisch rätselhaften Psychokrimi ganz aus der Spannung seiner Figuren und der Musik heraus. Das sparsam möblierte Bühnenbild von Martin Kukulies öffnet den großen schwarzen Raum für vielfache Brechungen und raffinierte Spiegelungen. Dominiert wird es von dem überlebensgroßen Porträt von Pauls verstorbener Gattin Marie: ein riesiger Spiegel, wie man ihn von alten Frisierkommoden kennt und der nicht umsonst den Namen „Psyche“ trägt. Durch fast unmerkliche Überblendungen changiert das Bild der maskenhaften blonden Zwanzigerjahre-Schönheit zwischen unberührbarer Madonna und erotisch herausfordernder Erscheinung. In Pauls „Kirche des Gewesenen“ herrscht der süßliche Duft der Verwesung neben dem Sehnsuchtsparfüm des sinnlichen Begehrens. Die grandiose Morenike Fadayomi als Gast von der Düsseldorfer Oper verkörpert mit traumhaft wandlungsfähigem Sopran die Heilige und die Hure. Als lebendig gewordenes Bild der toten Marie fordert sie bedingungslose Treue und die Rettung der unsterblichen Liebe aus der Vergangenheit in die Zukunft. Als schwarzhaarige Marietta ist sie pure Gegenwart und erscheint optisch wie das fotografische Negativ der Verstorbenen. Fadayomis Marietta ist kokette Schauspielerin, laszive Tänzerin und eine selbstbewusste Frau, die als Subjekt aus Fleisch und Blut wahrgenommen werden will. Aris Argiris als Pauls Freund Frank und männliches Vernunftprinzip und Vera Baniewicz als Pauls tapfere Haushälterin Brigitta und weiblich emotionales Pendant zu Frank gehören nicht nur sängerisch zu den Glanzlichtern der Aufführung. Sie sind die schwarzen Geister der unüberwindlichen Realität und die weißen Gespenster in Pauls Albtraum von der Wiederholbarkeit der Zeit.
Denn für den verblendeten Paul exis­tiert Marietta nur als Abbild von Marie. Der international renommierte Gast Janez Lotric bewältigt die sängerisch bis an die Grenzen des Möglichen gehende Tenorpartie stimmlich bravourös und mit eindrucksvoller Bühnenpräsenz. Pauls schlafende Vernunft gebiert die überall lauernden Furien des unmöglichen Verschwindens, die völlig alterslos seinen Gedenkraum bevölkern und schließlich die Kanäle des nächtlichen Brügge in ein magisches Venedig verwandeln. Mariettas Komödiantentruppe spielt und gaukelt ihm die groteske Wiederauferstehungs­szene aus Meyerbeers Robert le Diable (ein von Korngold genial eingebautes Opernzitat!) mit böser Lust vor. Julia Kamenik und Marianne Freiburg trippeln als Tänzerinnen Juliette und Lucienne durch das verrückte Spiel im Spiel, das Mark Rosenthal als Regisseur Victorin herrlich komisch leitet und Johannes Mertes als reicher Gönner Graf Albert in jeder Hinsicht aushält.
Die schwarzweißen Pierrot-Kostüme von Fred Fenner verweisen auf die spiegelverkehrte Geschlechtergeometrie. Mehr als 150 Kostüme hat Fenner für diese Produktion entworfen. Zum wie immer von Sibylle Wagner glänzend einstudierten Chor gesellt sich im katholischen Prozessionsrausch noch der Kinderchor unter der Leitung von Ekaterina Klewitz. Das heilige Ritual nach der Liebesnacht mit Marietta gerät hier zu einem atemberaubend sinnlichen Ereignis von barocker Pracht mit unendlichen Spiegelungen der fla­ckernden roten Grablichter und Massenaufzügen im frommen Delirium (Choreographie: Karel Vanek, der auch als Tänzer Gaston in der Komödiantenszene auftaucht). Die Ernüchterung folgt auf den nackten Füßen von Marietta, die den goldenen Zopf von Marie wütend unzüchtig entweiht und von Paul mit dem kostbarsten Relikt seiner gestorbenen Liebe erdrosselt wird.
Es war nur ein Sekundenschlaf, in dem sich für Paul der reale Raum in die Dimension der Zeit verschob. Marietta lebt, und alle sind noch genau so da wie vor der langen schmerzlichen Reise ins Unbewusste. Paul will aus der „toten Stadt“ Brügge fliehen. Doch der riesige Plafond, der sich am Anfang hob, senkt sich am Ende bedrohlich über seinen Lebenswillen: „Ein Traum hat mir den Traum zerstört, ein Traum der bitt­ren Wirklichkeit den Traum der Phantasie.“ Zum Sterben schön und als Musiktheater wirklich ein Ereignis, das eine Reise nach Bonn wert ist! E.E.-K.

Aufführungsdauer: ca. 3 Std., inkl. Pause
Im Programm bis: 23.04.08

Dienstag, 12.08.2008

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