November - kultur 63 - Februar 2010

Bitterböse Politfarce: November im Contra-Kreis-Theater

Im November leben Truthähne in den USA noch gefährlicher als Gänse in Europa. Denn am vierten Donnerstag dieses Monats ist in Amerika der staatliche Feiertag „Thanksgiving“, an dem etliche der stattlichen Vögel in der Bratröhre landen. Am folgenden Freitag startet das Weih­nachtsgeschäft. Mit den Präsidentenwahlen verhält es sich etwas komplizierter. Sie finden nur in Jahren statt, die durch vier teilbar sind, und dann am ersten Dienstag nach dem ersten Novembermontag. Es gehört zu den schönen Traditionen, dass der Präsident der Vereinigten Staaten jedes Jahr öffentlich einen Truthahn begnadigt, der dann nicht geschlachtet wird, sondern im ganzen Land eine gute Presse mit schönen Fotos vom präsidialen Pardon kriegt. Was den Konsum von Truthahnfleisch ankurbelt, wofür sich die Züchter in der Regel durch großzügige Spenden erkenntlich zeigen. Gelegentlich wird aus dem Thanksgiving-Braten zwar eine Plastik-Attrappe für die Pressefotos wie bei einem Ostfrontbesuch des ehemaligen Präsidenten George W. Bush.
Im Januar 2008 - noch während der Amtszeit von Bush - wurde in New York die Komödie November von David Mamet uraufgeführt und ein Riesenerfolg. Mamet gehört wie sein Dramatikerkollege Neil LaBute zu den sehr kritischen Beobachtern amerikanischer Zustände. Mit Stücken wie Hanglage Meerblick und Oleanna eroberte er die deutschen Bühnen. Außerdem schrieb er viele Drehbücher, z.B. für so bekannte Filme wie Wenn der Postmann zweimal klingelt oder Die Unbestechlichen. Mamet nimmt kein Blatt vor den Mund. Ähnlichkeiten seines Präsidenten Charles Smith mit dem republikanischen Versager im Weißen Haus sind durchaus beabsichtigt, aktuelle Anspielungen unvermeidlich.
Im Contra-Kreis wird Charles Smith (unter Freunden: „Chucky“) gespielt von Jochen Busse, was zweifellos erste Wahl ist. Schon wie Busse puterrot anlaufen kann, als ob er kurz vor dem Herzinfarkt stünde, müsste eigentlich die Zuschauerquoten auf über 100% treiben. Klar, dass der Kandidat einen dicken Hals kriegt, wenn seine Wählerzahlen kurz vor dem entscheidenden Termin in den Keller rutschen und die Geldhähne versiegen. Wenn die Gattin per Telefonterror auch noch darauf besteht, nach dem voraussichtlichen Auszug aus dem Weißen Haus zumindest die frisch bezogene Couch mitzunehmen, können kleine geografische Verwechslungen vorkommen. Versehentliche Kriegserklärungen, Terrordrohungen aus dem Irak oder Iran – im Oval Office fliegen jedenfalls die Fetzen.
Alle diplomatischen Ausrutscher sicher im Griff hat Chuckys unermüdlicher Berater Archer Brown alias René Heinersdorff. Der führt nämlich nicht nur Regie bei der irrsinnigen Politfarce, sondern übernimmt auch noch glänzend die Rolle des Souffleurs, der seinem Herrn stets die richtigen Stichwörter liefert. Oder ihn im letzten Moment dazu bringt, die Klappe zu halten, was bei diesem zielsicher jedes politische Fettnäpfchen ansteuernden Großmaul, eine geradezu heroische Leistung ist. Busses raubeiniger Präsident brüllt und jammert, tobt und trickst, dass einem im aberwitzigen Pointengewitter das Lachen fast im Hals stecken bleibt. Mit ein paar Milliönchen für den Ruhestand wäre die Sache vorbei, wenn Präsident Smith nicht doch noch eine Wiederwahl-Chance witterte. Geld muss her für TV-Werbespots. Wer Truthähne verkaufen will, soll erst mal das Budget des Staatsoberhaupts füttern. Wer nicht spurt, darf ohne ­Rück­­flugticket den „Schweineflieger“ nach Bulgarien besteigen. Thomas Gimbel vertritt mit einer schönen Mischung aus schmieriger Ergebenheit und Bauernschläue die Truthahnzüchterlobby. Die reizende Claudia ­Scar­patetti ist Smiths geniale Redenschreiberin Clarice Bernstein. Eine linke Lesbierin und Überzeugungstäterin, die im Rahmen der Vogel-Befreiung unbedingt vom Präsidenten vor laufenden Kameras mit ihrer Lebensgefährtin getraut werden will und deshalb schon mal im schulterfreien Hochzeitskleid (Kos­tüme: Anja Saafan) herumläuft. Ohne Eheschließung rückt sie den USB-Stick mit dem fertigen Redetext nicht raus. Dass sie mit dem soeben in China erworbenen, natürlich weiblichen Baby möglicherweise auch die Vogelgrippe eingeschleppt hat, macht die Situation nicht einfacher.
Richtig brenzlig wird’s jedoch, wenn plötzlich der stolze Indianerhäuptling Dwight Grackle (sehr komisch: André Beyer) mit ziemlich klaren Absichten auftaucht. Da kippt die Dramaturgie dieser einfallsreichen, bitterbösen Realsatire so herrlich ins Groteske, dass es wirklich zum Totlachen wird. „Die großen Probleme, die ich hier vorgefunden habe, hinterlasse ich auch“, erklärt Charles Smith am Ende recht zufrieden. Da kann man nur fordern: Busse for President!
Ein brillant gebautes Stück mit großartigen Darstellern! It’s a must! Fand auch das begeis­terte Premierenpublikum, darunter viel Polit- und Medienprominenz. E.E.-K.

Aufführungsdauer: ca. 2 Std., eine Pause
Im Programm bis: 14.03.10
Nächste Vorstellungen: tägl. außer montags

Dienstag, 11.01.2011

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