Schneemann - kultur 34 – Februar 2007

Kälteschock - Schneemann von Greg MacArthur in der Werkstatt (deutschsprachige Erstaufführung)

Irgendwann sind sie an der Schneegrenze gelandet. In Kanada, dessen neue Dramatik in dieser Saison auf der Werkstattbühne vorgestellt wird. Nach den vertrackten Möglichen Welten von John Mighton folgt der Kälteschock mit der deutschsprachigen Erstaufführung von Schneemann des jungen Shooting-Stars der kanadischen Szene Greg MacArthur. Der Bonner Nachwuchsregisseur Jens Kerbel hat das 2003 in Vancouver uraufgeführte Stück mit viel lakonischer Ironie und feinem Gespür für die Zwischentöne in dem merkwürdig undramatischen Text inszeniert. Es gibt wenig Dialoge zwischen den Figuren, die jedoch viel monologisieren über sich und ihre kleine Welt.
Irgendwann also wurden Denver und Marjorie, beide Mitte dreißig, ein Paar, zogen ziellos herum und landeten in einem Nest im hohen Norden am Rand eines Gletscherfeldes. Ein Videoverleih in der Wohnküche und Gelegenheitsjobs sichern den Lebensunterhalt. Hendrik Richter mit Ohrenfellmütze ist ein naiver, jungenhafter Denver, der sich mit Holzofen und Schneemobil und festgefrorenem Grinsen ganz bequem eingerichtet hat. Nicole Kersten in Fellstiefeln und Blümchenkleid oder weißem Cowgirl-Outfit (Kostüme: Sigrid Trebing) spielt eine seltsam immer knapp neben sich agierende Marjorie: eine einsame Träumerin, die sich mit Popcorn vollstopft und irgendetwas in sich sucht, als sei ihr Körper ein Ausgrabungsfeld. Für den jungen Einzelgänger Jude, dem früh die Eltern abhanden kamen, der scharf ist auf deutsche (tatsächlich im Originaltext!) Schwulenpornos und nebenbei auf Denver, entwickelt sie eine fast mütterliche Zuneigung. Arne Lenk - neu im Bonner Schauspiel-Ensemble - verkörpert dieses große kalte Kind, das im Gletscher plötzlich ein anderes findet, eine unter dem Eis konservierte Jungenleiche. Jude ist magisch angezogen von seinem geheimnisvollen Fund und will seinen „Schneemann“ besitzen und beschützen: Der fremde Eisjunge ist Objekt der Identifikation und des erotischen Begehrens, sein fragiler, durchsichtiger Sarg dennoch ein unberührbarer, heiliger Ort, aus dem Judes Gesicht live per Video leuchtet.
Denver wittert schlicht eine archäologische Sensation und alarmiert die Außenwelt. Die Wissenschaftlerin Kim (Nina Vodop'yanova) fliegt ein, sieht aus wie eine Pop-Schneekönigin, treibt's mit Denver auf dem schmelzenden Eis über der Leiche und überlässt den Rest ihren Forscherkollegen. Viel bleibt denen jedoch nicht übrig. Die Jungs aus dem Dorf sind mit Schaufeln und Hacken auf ihren eigenen Horrortrip gegangen, Jude und der tote Junge aus dem Eis sind verschwunden.
MacArthur zitiert diverse B-Movies und Horrorklassiker. Kerbels Inszenierung setzt der Trash-Ästhetik eine groteske Künstlichkeit entgegen, zeigt weder Sex, Blut noch Moder, illustriert den Text nicht, sondern bewahrt seinen unterkühlten narrativen Duktus. Gesine Kuhn hat ihr schönes, transparentes Bühnenbild zu den „Möglichen Welten“ mit glitzernder Folie auf dem Boden, Schnee-Eulen an der Wand, putzigem weißen Hirsch und schwarzen Blechtonnen verwandelt zu einer surrealistischen Eiswüste, in der die Gefühle komisch heißlaufen wie Elementarteilchen kurz vor dem Kältetod. Beziehungskiste aus dem Sehnsuchts-Gefrierfach. Der Autor zeigte sich bei der Premiere zu Recht sehr angetan von dieser intelligenten Aufführung und dem sehr guten Darstellerquartett. E.E.-K.

Aufführungsdauer: ca. 2 Std./keine Pause

Donnerstag, 01.02.2007

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