von Schirach, Richard: Der Schatten meines Vaters

kultur Nr. 40 - Oktober 2007

Drei Jahre war Richard von Schirach alt (oder jung), als sein Vater beim Nürnberger Prozess zu zwanzig Jahren Zuchthaus verurteilt wurde.
24 Jahre war er, als er ihm bei seiner Freilassung zum ersten Mal die Hand gab, den Vater berührte.
60 Jahre hat er gebraucht, um darüber zu schreiben, um zu erzählen, wie das war, mit dem Schatten eines Vaters zu leben, den man nicht kennt, obwohl er einem im Laufe der Jahre über 1.000 Briefe geschrieben hat.
Baldur von Schirach, Hitlers Reichsjugendführer und zuletzt Reichsstatthalter in Wien, kam 1966 aus dem Zuchthaus Spandau frei, zusammen mit Albert Speer, zurück blieb nur Rudolf Heß. Er kam in eine neue, ihm völlig fremde Welt, zu der er keinen Zugang hatte, auch zu den Söhnen nicht, sie waren ohne Vater aufgewachsen. Die Mutter hatte sich nach fünf Jahren scheiden lassen, der jüngste Sohn ist weitgehend auf sich allein gestellt aufgewachsen.
Richard von Schirach wertet nicht und richtet nicht, er berichtet, fast emotionslos, was vielleicht erklärt, warum er so lange gebraucht hat. Es ist ein ungeheuer an- und berührendes Buch geworden und es hat mich lange beschäftigt. Und es scheint mir sehr ehrlich, in der Hoffnung und in der Enttäuschung, in der Verzweiflung eines einsamen Kindes, das alleine kämpft und doch etwas wird. Er studiert Sinologie, etwas - für den Vater - vollkommen Unbegreifliches.
Unbegreiflich schien mir auch die Heimkehr des „Kriegsverbrechers“, der von vielen Leuten erwartet und begrüßt und auch beschenkt wurde, der, noch in Haft, einen Vertrag einer großen Zeitschrift für seine Memoiren erhielt.
Das alles ist nun schon wieder 40 Jahre her und Baldur von Schirach tot, das Buch endet mit seiner Freilassung, fertig wird mit dieser Lebensgeschichte vermutlich niemand und auch das Buch möchte man nochmals lesen, weil man es eigentlich nicht fassen kann. Aber man sollte es lesen.

Der Schatten meines Vaters - von Richard von Schirach,
Hanser,
August 2005,
384 S.,
gebunden,
24,90- €.

Mittwoch, 05.01.2011

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