Nicole Kersten - kultur Nr. 12 - 12/2004

"Wenn man kämpfen will, muss man Herz haben"

Ihre erste große Rolle spielte sie Anfang 1999 in Frankfurt am Main, die Marie in Büchners "Woyzeck". Regie führte Peter Eschberg. Der damalige Frankfurter Intendant hatte Nicole Kersten bereits engagiert, als sie ihr Abschlussexamen noch gar nicht in der Tasche hatte. Das scheint typisch zu sein für die junge Schauspielerin, deren Weg ins Theater (von ‚Karriere' spricht sie nicht so gern) erstaunlich geradlinig verlaufen ist.
„Dabei war mir eine künstlerische Laufbahn eigentlich nicht in die Wiege gelegt", erzählt sie. In ihrer Kindheit habe Kultur keinen großen Stellenwert gehabt, ihre Eltern führten eine Kneipe in der nördlichen Kölner Altstadt, in der Nähe der St. Agnes-Kirche. Ihr Vater Rolf Kersten war früher Boxer und sogar deutscher Meister im Leichtgewicht. „Dass man seine Träume durchsetzen kann und soll, habe ich von ihm gelernt. Das Wichtigste ist herauszufinden, was man selber für sein Leben will." Boxkämpfe schaut sie sich immer noch gern im Fernsehen an: „Diese körperliche Nähe und das unmittelbare Spiel mit dem Gegner faszinieren mich einfach." Außerdem hat sie einen alten Boxerspruch auch zu ihrem eigenen gemacht: „Wenn man kämpfen will, muss man Herz haben."
Wie eine Kämpferin sieht sie eigentlich nicht aus und gesteht auch, dass sie in ihrer Schulzeit eher verträumt war, den Unterricht als unkreativ empfand und das Gefühl hatte, „irgendwie anders zu funktionieren" und immer andere Zusammenhänge zu suchen. „Kleine Dinge auf dem Schulweg fand ich wahnsinnig aufregend, und hätte gern stundenlang darüber berichtet." Ein paar von ihren Beobachtungen konnte sie dann in die Schultheatergruppe einbringen, in der sie begeistert mitspielte. Das war schon auf dem Gymnasium in Troisdorf-Sieglar, wohin die Familie später umzog und wo sie 1994 ihr Abitur machte. Tief beeindruckt hat sie Peter Zadeks "Lulu"-Inszenierung, die sie als Schülerin im Fernsehen sah. „Ich fand es toll, dass so etwas möglich ist und dass man mit solcher Kraft spielen kann." Das hat sie in ihrem Wunsch bestärkt, aus dem Theater ihr Lebensziel zu machen, obwohl einige Lehrer ihr rieten, doch ‚was Vernünftiges' zu studieren. Nicole lacht: „Jetzt sitzen die manchmal im Publikum, und meinen ehemaligen Englischlehrer habe ich sogar als Statisten im ‚Tartuffe' wiedergetroffen."
Sie wollte aber erst mal erkunden, „ob Theater als Beruf wirklich was mit mir zu tun hat" und hat ein Jahr lang als Hospitantin, Regieassistentin und auch schon mal als Einspringerin auf der Bühne im Kölner Theater am Sachsenring gearbeitet. „Das war sehr gut, in der Freien Szene muss man vom Einlass bis zum Putzen alles machen, kommt aber - anders als an großen Häusern - auch sofort in einen inhaltlichen Diskurs." An vier renommierten Schauspielschulen hat sie dann vorgesprochen; sowohl an der Hochschule der Künste in Berlin (wo sie übrigens Andreas Maier traf, der jetzt ihr Kollege im Bonner Ensemble ist) als auch an der Otto-Falckenberg-Schule in München mit Erfolg. Sie hat sich für die bayrische Hauptstadt entschieden, weil es ihr dort einfach besser gefiel und weil sie die Münchner Kammerspiele so aufregend fand. Nach dem Ende der Ausbildung zog sie sofort in die Mainmetropole. Dort hat sie so viel gespielt, dass sie es kaum noch aufzählen kann. „15 bis 18 Vorstellungen im Monat sind für eine Anfängerin wirklich hart. In großen Rollen gleich eine Menge Verantwortung zu übernehmen, hat mich fast überfordert. Aber ich konnte mir ein Repertoire erarbeiten und eine eigene künstlerische Sprache finden." Nach dem Ende von Eschbergs Frankfurter Intendanz wurde sie an Klaus Weises Schauspiel in Oberhausen empfohlen. Dort debütierte sie Anfang 2002 als Lady Marwood in Lessings "Miss Sara Sampson". „Nicole Kersten gibt ihr als giftgrün glitzernder Star der Aufführung ein differenziertes Profil", schrieb damals der Bonner General-Anzeiger. Die eigenwillige kleine Produktion wurde zu mehreren Festivals eingeladen, z. B. zur von Günter Rühle initiierten "Woche junger Schauspieler" in Bensheim. Regie führte der junge Matthias Kaschig, mit dem sie jetzt gerade in Bonn probt: Im "Streit" von Marivaux, diesem komplexen Menschenexperiment aus der französischen Aufklärung spielt sie die adelige Hermiane und die Dienerin Carise - Premiere ist Mitte Dezember in der Werkstattbühne. Mit der französischen Klassik hat sie sich jetzt mehrfach beschäftigt. Ihr Bonner Debüt gab sie als Elmire in Molières Komödie "Tartuffe". In dieser Saison spielt sie die Titelrolle in Racines Tragödie "Phädra". „Es gibt wahnsinnige emotionale Wechsel, die man ganz pur von innen heraus entwickeln muss. Phädra ist auch eine Projektionsfigur, bei der viele schon eine vorgefertigte Vorstellung haben. Das ist für mich eine riesige Herausforderung, aber es verlangt auch viel Mitdenken beim Zuschauer." Daneben verkörpert sie in Karst Woudstras "Würgeengel" die Sängerin Serena. „Die ist die einzige Figur, die die Kunst wirklich tödlich ernst nimmt, trotzdem oder gerade deshalb eine Gescheiterte. Ich versuche, das Divenhafte der Serena als etwas Antrainiertes sichtbar zu machen und in ihr die Zartheit zu zeigen, die Phädra verbergen muss."
In Shakespeares "Winter-Mährchen" spielte sie die verlassene Königin Hermione mit ungeheurer Intensität. Ihre Verteidigungsrede vor Leontes' Gericht gehörte - nach Meinung der Kritik und des Publikums - zu den Glanzstücken der Inszenierung. In den "Jagdszenen aus Niederbayern" war sie das Dienstmädchen Tonka, eine Rolle, die ja auch eine Menge mit der Marie im Woyzeck zu tun hat. So schließen sich immer wieder Kreise.
Ins heimatliche Rheinland wollte Nicole Kersten sowieso gern wieder zurück, zumal sie ein Karnevals-Fan ist. „Aber vor allem bin ich froh, wieder in einer Stadt mit einem großen, mächtigen Fluss zu wohnen."
Kritiken interessieren sie nicht so sehr („Ok, das glauben Sie sowieso nicht."), eher die Kommunikation mit dem Publikum. „Ich will, dass die Leute ein bisschen anders aus dem Theater rausgehen, als sie reingekommen sind - ok, das finden Sie jetzt auch nicht so originell." Manchmal hat sie schon Sorgen, ob das Theater in zehn Jahren noch als etwas so grundsätzlich Wichtiges wahrgenommen wird: „Theater sind doch die einzigen Spielplätze, wo man - die Mitwirkenden und die Zuschauer - sich selbst begegnen kann." Radikale Zuversicht hat sie bei aller Nachdenklichkeit allerdings schon längst bewiesen.

Dienstag, 25.02.2014

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