Hans-Jürgen Diekmann - kultur 94 - März 2013

Elisabeth Einecke-Klövekorn trifft Hans-Jürgen Diekmann: Leiter der Statisterie am Theater Bonn

Am Abend nach unserem Gespräch steht eine Probe zur Wiederaufnahme von La Traviata an. „Da sind aber nur vier Personen aus der Statisterie beteiligt“, erklärt Hans-Jürgen Diekmann ganz entspannt, den viele eher noch unter seinem Geburtsnamen Moll kennen. „Bei den Aufführungen von Jephtha sind 25 im Einsatz, bei Norma 10.“ Diekmann leitet (nur personalmäßig, kostenmäßig eher unauffällig) die größte Abteilung am Theater Bonn: Über 100 Statistinnen und Statisten sind regelmäßig engagiert. Hinzu kommt noch ein großer Pool von Leuten, die nur gelegentlich gebraucht werden. Zum Beispiel beim Einleuchten, wo man natürlich nicht die teuren Profi-Künstler einsetzt, sondern Statisten, die ihnen von der Figur her in etwa entsprechen.
„Reich werden kann man als Theaterstatist gewiss nicht, die Gage für eine Aufführung mit Normallänge liegt bei ca. 13 Euro. Natürlich gibt es Probengagen und Zulagen für besondere Leistungen wie Sprech- oder Tanzeinsätze, das Tragen von schweren Gegenständen oder Szenen mit körperlichen Angriffen. Wer Geld braucht, ist als Komparse bei Film und Fernsehen besser aufgehoben.“ Manche, die sich bei ihm bewerben, machen sich falsche Vorstellungen. „Vor allem wichtig sind Zuverlässigkeit und zeitliche Flexibilität. Künstlerische Neugier kann nicht schaden, Frustrationstoleranz ist manchmal nötig. Denn natürlich kommt es vor, dass ein Regisseur sich während der Proben anders entscheidet und Statisten wieder aus der Produktion nimmt. Aber die meisten, die einmal vom Bühnenvirus infiziert sind, bleiben dabei. Gerti Kunze zum Beispiel, die stellvertretende Vorsitzende des hiesigen Wagner-Verbandes, hat mit 28 Jahren hier angefangen, mehr als 2.500 Auftritte absolviert und 2009 ihr 40-jähriges Bühnenjubiläum gefeiert. Ein Feuerwehrmann, der immer für den TÜV die Bühnenbilder abnahm, ist nach seiner Pensionierung gleich zur Statisterie gekommen. Studenten sind auch oft dabei und nutzen das auch gern für ihre professionelle Karriere. Tim und Jörg, die ja bei Dir studiert haben, waren hier mehrere Jahre als Statisten engagiert und sind jetzt an verschiedenen Theatern Dramaturgen geworden. Das Tolle ist, dass man als Statist ganz unterschiedliche Regisseure kennenlernen kann und oft an der Seite berühmter Künstler erscheinen darf.“
Hans-Jürgen hat schon als Sechsjähriger in Mönchengladbach, wo er 1958 zur Welt kam, Theaterblut geleckt. „Nach einer Vorstellung von Prinzessin Huschewind war ich so begeistert, dass ich mir zu Weihnachten sofort ein Jugendabo bei der Theatergemeinde wünschte. Unsere Nachbarn hatten eine Loge im Stadttheater und nahmen mich dann oft mit zu Künstlergesprächen. Irgendwann hat mich der damalige Intendant Joachim Fontheim gefragt, ob ich nicht mal mitspielen wollte. So kam ich zur Statisterie, meinen ersten Auftritt hatte ich in der Operette Der Zarewitsch.“
Hans-Jürgen machte eine Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann, blieb aber dem Theater treu. In Köln lernte er den dortigen Statis­tenführer kennen und wirkte dann in vielen Inszenierungen an der Oper und am Schauspiel mit. In Turandot in der Regie von Jean-Pierre Ponnelle verkörperte er den Henker. Eine richtige Rolle mit Text spielte er in dem Tabori-Projekt Mein Kampf / Kannibalen in der Regie von Torsten Fischer, das 1991 mit dem NRW-Theaterpreis ausgezeichnet wurde.
Als Manfred Beilharz die Bonner Schauspielintendanz übernahm, holte sein Stellvertreter Frieder Weber, der zuvor Dramaturg in Köln war, Hans-Jürgen als Statistenführer nach Bonn. Anfangs war er nur für das Schauspiel zuständig, nach der Zusammenlegung der Sparten auch für Oper und Tanz. Die kommende Spielzeit ist also seine 23. an diesem Haus unter seinem dritten Generalintendanten.
„Meine Tätigkeit ist ungeheuer vielseitig“, sagt er selbstbewusst. „Ich bin ja fast bei jeder Produktion dabei. Großartig ist die Zusammenarbeit mit dem Regisseur Dietrich Hilsdorf, der immer ganz genau weiß, was er will. Im Troubadour durfte ich den Pater Moll spielen, der sogar meinen ursprünglichen Namen erhielt. Überhaupt habe ich unglaublich viele Rollen bekommen. Wunderbar war 1993 14 Hamlets von Jeremy Weller, wo ja eine Figur eigens für mich konzipiert war. Begeistert war ich auch von Fegefeuer in Ingolstadt in der Regie von Andreas Kriegenburg. Viel Spaß gemacht hat die Operette Saison in Salzburg mit Rainer Pause und Norbert Alich in der Halle Beuel. Fantastisch war auch der Duncan in der Oper Macbeth in der Regie von Vera Nemirova, wo ich am Anfang das ganze Orchester zu dirigieren vorgab. Der damalige Generalmusikdirektor Roman Kofman hat mir nach der Premiere seinen Taktstock geschenkt. Die größte Herausforderung war aber sicher Hannelore Kohl von Johann Kresnik, wo ich den Ex-Bundeskanzler darstellte. Es forderte wirklich Mut, sich so mit vollem Körpereinsatz zu präsentieren, aber ich habe die umstrittene Aufführung geliebt.“
Sensibilität im Umgang mit ganz unterschiedlichen Menschen ist ohnehin nötig in seinem Beruf. „Als für ein Stück viele alte Männer gesucht wurden, habe ich die Seniorenheime abgeklappert. Echt schwierig wurde es, als Kresnik für Hundert Jahre Einsamkeit 20 einbeinige Menschen forderte. Einige Statisten möchten auch nur Oper oder nur Schauspiel machen. Das muss man ebenso berücksichtigen wie etwa die Jugendschutz-Bestimmungen bei Kinder-Statis­ten. Bei manchen Inszenierungen ist Schwindelfreiheit nötig, oft auch ein bestimmtes Aussehen, eher selten die Bereitschaft, nackt aufzutreten. Bis jetzt habe ich immer noch alles Gewünschte gefunden. Ab und zu spreche ich sogar einfach Leute auf der Straße an. Häufig rufe ich auch meine Kölner Kollegin Martina Pohl an. Natürlich kooperieren wir, wenn es sinnvoll ist.“
Zu seinen Entdeckungen gehört übrigens die kleinwüchsige Schauspielerin Christine Urspruch. „Für das Stück Leben wie die Schweine von John Arden in der Regie von Barbara Bilabel suchten wir 1993 eine erwachsene Frau, die ein Kind spielen sollte. András Fricsay war von ihr so fasziniert, dass er ihr kurz danach die Ophelia in seinem Hamlet anvertraute. Inzwischen ist Christine ein Film- und TV-Star.“
Hans-Jürgen ist groß und ziemlich vollschlank. Für manche Werbe-Spots (z. B. das Michelin-Männchen) ist das ideal. Nebenbei hat er also allerhand Fernsehen gemacht und in diversen Serien mitgewirkt. Besonders gern erinnert er sich an die erfolgreiche Sat-1-Comedy-Serie Der Dicke und der Belgier an der Seite von Diether Krebs.
In seiner knappen Freizeit reist Hans-Jürgen häufig privat zu Opernaufführungen in aller Welt. Die Leidenschaft für das Musiktheater teilt er mit seinem aus Niedersachsen stammenden Lebenspartner Günter Diekmann. Gemeinsame Fahrten zu den Festspielen in Baden-Baden und Salzburg sind 2013 schon fest geplant. Demnächst geht es erstmal nach Vilnius. Bei dem Gastspiel La Bayadère des litauischen Nationalballetts hat Hans-Jürgen einen Priester gespielt und möchte jetzt die Heimatstadt der sympathischen Compagnie kennenlernen. Vorher stürzen sich Hans-Jürgen und Günter jedoch in den rheinischen Karneval. Beide sind erklärte Fans des närrischen Treibens und Mitglieder der Ehrengarde Sankt Augustin-Hangelar. „Beim Rosenmontagszug mitzufahren, ist fast so schön, wie in der Oper auf der Bühne zu stehen.“
Was Hans-Jürgen gern mal in der Bonner Oper erleben möchte? Klare Favoriten sind Der Teufel von Loudon von Krzystof Pende­recki, der in diesem Jahr 80 wird, und Peter Grimes von Benjamin Britten, dessen Geburtstag sich 2013 zum 100. Mal jährt.

Dienstag, 01.10.2013

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