Gisela Pflugradt-Marteau - kultur 61 - 12/2009

Elisabeth Einecke-Klövekorn trifft Gisela Pflugradt-Marteau: Viel Ballett und 40 Jahre Euro Theater Central

Dass sie Tänzerin ist, sieht man an ihrem Gang und ihren Bewegungen. Ihren Traum vom Tanzen hat sie energisch durchgesetzt, obwohl ihr das nicht in die Wiege gelegt war, als sie 1945 im schwäbischen Krumbach mit einer leichten Hüftdysplasie zur Welt kam. Aufgewachsen ist Gisela Pflugradt in Berlin, wo ihr Vater als Oberstudienrat tätig war. Bei der Kindergymnastik fiel Giselas ungewöhnliche tänzerische Begabung auf. „Das Mädchen muss zum Ballett“, hieß es bald. Gleich nach den ersten Ballettstunden stand für sie fest: „Ich will tanzen, selbst unter Schmerzen.“ 1953 nahm die legendäre russische Tänzerin und Tanzpädagogin Tatjana Gsovsky (1901 – 1993) das junge Talent unter ihre Fittiche. „Es war wirklich harte Arbeit. Ab zwölf Jahren trainierte ich täglich bei ihr, auch wenn ich dafür drei Stunden Fahrt durch ganz Berlin in Kauf nehmen musste. Als meine Mutter mich mal aus Versehen zu Hause eingeschlossen hatte, hätte ich fast die Wände eingeschlagen, um doch noch zum Ballettunterricht zu kommen.“ Erste kleine Auftritte mit Gsovkys Meisterklasse folgten. Mit gerade mal 15 Jahren bestand Gisela ihr Abschlussexamen. Zu ihren strengen Prüferinnen gehörte die berühmte Ausdruckstänzerin Mary Wigman.
Gisela wollte nun tanzend die Welt erfahren. Bei der in Memmingen beheimateten „Jungen Ballett-Compagnie“ von Erika Lindner wurde sie sofort als Elevin engagiert. Mit der Truppe reis­te sie drei Jahre lang durch halb Europa. 1961 führte sie ihr Weg zum ersten Mal nach Bonn. Der damalige Stadttheater-Intendant Karl Pempelfort hatte die Compagnie für mehrere Produktionen verpflichtet. Im selben Jahr gastierte sie bei den Festspielen in Bad Hersfeld als Elfe in Shakespeares Sommernachtstraum. Claus Marteau war dort als Organisationsleiter tätig.
Zwischen den beiden gefunkt hat es etwas später, als Gisela 1963 fest in Bonn engagiert wurde. Den damaligen Bonner Ballettchef Giuseppe Urbani kannte sie noch als Solotänzer in Gsovskys Truppe. Bis 1981 war Gisela Solistin beim Ballett am Bonner Opernhaus. Die zierliche junge Primaballerina eroberte sich schnell die Herzen des Publikums. „Für die großen klassischen Handlungsballette war unser Ensemble zu klein. Mich interessierten allerdings sowieso moderne Tanzformen viel mehr. Ich war begeistert von Maurice Béjart und von Hans van Manens Nederlands Dans Theater. Unvergesslich ist für mich die Uraufführung von Pendereckis Polymorphia zur Eröffnung des neuen städtischen Theaters 1965. „Die Musiker des Orchesters der Beethovenhalle wollten das gar nicht gern spielen, aber wir wollten es in der Choreographie von Lothar Höffgen unbedingt tanzen.“ Höffgen wurde von Pempelforts Nachfolger Hans-Joachim Heyse als neuer Bonner Ballettchef engagiert. Besonders gern erinnert sich Gisela an die Tanzproduktionen Carmina Burana, natürlich den Bolero und die Uraufführung von Schmetterlinge 1971 zur Live-Musik der Pop-Gruppe „Joy Unlimited“ mit Joy Fleming als Leadsängerin. „Im Bonner Sommer sind wir mit einem Umweltballett zur Musik von Pink Floyd vor dem Rathaus aufgetreten. Das war toll, denn mir ging es beim Tanz immer darum, den Menschen etwas zu sagen.“
In der Werkstatt hat sie auch selbst choreographiert: Der Tod des Iwan Iljitsch nach Tolstoi und die Emanzipationsgeschichte Erwachen zur Musik von Leonard Bernstein. Sie blieb Solistin unter den Ballettchefs Ottavio Cintolesi und Draguthin Boldin und wechselte 1981 als Direktionsassistentin in die Leitung der Bonner Compagnie. Von 1990 bis 1992 war sie stellvertretende Ballettdirektorin. Peter van Dyck und Youri Vamos nutzten ihre künstlerische und organisatorische Kompetenz; vielen jungen Tänzerinnen und Tänzern stand sie mit Rat und Tat zur Seite.
Inzwischen hatte längst ihr zweites Leben als Theatermacherin begonnen. 1969 gründete sie gemeinsam mit ihrem späteren Gatten Claus Marteau das Euro Theater Central – anfangs noch ein Privattheater ohne feste Spielstätte. „Wir wollten mit unseren Ideen direkt zu den Leuten gehen, spielten Strindbergs Fräulein Julie in der Betriebskantine des Kaufhofs, einige Stücke in der Nachtbar ‚Igel’ (heute Café Göttlich) und im Postershop von Montanus Aktuell und provozierten gelegentlich mit nackten Tatsachen.“
1972 etablierte sich das Theater am Mauspfad. Anfangs in einem ehemaligen Spielcasino im Erdgeschoss, später im ersten Stock. 1975 konnte die Wohnung im zweiten Stock als Büro hinzugemietet und im ehemaligen Salon der „Club Voltaire“ für kleinere Veranstaltungen eingerichtet werden. Mit Marteaus weltbürgerlichem intellektuellem Anspruch und Pflugradts unermüdlichem Einsatz wurde das kleine Einraum-Theater schnell zu einem regelmäßigen Treffpunkt für die politische, diplomatische und kirchliche (!) Prominenz der Bundeshauptstadt. Zahllose Ur- und Erstaufführungen fanden hier neben eigenwillig neu interpretierten Klassikern statt. Einige Stücke blieben Jahrzehnte lang im Repertoire wie Sartres Geschlossene Gesellschaft. Gisela führte mehrfach Regie und spielte etliche Rollen. Mit ihrer knabenhaften Erscheinung amüsierte sie 1978 mit frechen Kinderfragen in Papa, Charly hat gesagt, war 1981 Colettes kokette Gigi und 1977 die stumme Stärkere in Strindbergs gleichnamigem Stück. „Das war sehr verrückt, weil ich gleichzeitig in einem dreiteiligen Tanzabend mitwirkte. Nach dem ersten Teil sauste ich heimlich zu meinem Auftritt ins Euro Theater, schlüpfte danach in der Operngarderobe wieder in mein Kostüm und tanzte weiter. Wenn da nicht jemand ein Auge zugedrückt hätte, wär ich wahrscheinlich fristlos aus dem Engagement geflogen.“
1978 gründete Marteau die Arbeitsgemeinschaft freier unabhängiger Theater in Europa, holte viele fremdsprachige Produktionen nach Bonn und reiste mit den Euro-Theater-Inszenierungen zu zahlreichen renommierten Festivals. Neben der internationalen Schiene blieb die lokale wichtig. Zum Karneval 1974 wurde am Mauspfad erstmals der heiß begehrte jährliche Mäuseorden vergeben.
Nach dem Tod von Claus Marteau 1995 übernahm Gisela Pflugradt die Leitung des Theaters und hat es bis heute mit ungeheurem Engagement durch alle finanziellen Engpässe geführt. Der ungarisch-rumänisch-deutsche Weltbürger Peter Tömöry wurde ab 1996 einer ihrer Hausregisseure und sorgte für produktive Kontakte nach Osteuropa. 1997 inszenierte Gisela im rumänischen Satu Mare Dürrenmatts unter Ceaucescu verbotenen Romulus der Große. Außerdem ist das Euro Theater seit mehreren Jahren mit eigens dafür ins Englische übersetzten Aufführungen regelmäßig zu Gast beim internationalen Theaterfestival im pakistanischen Lahore. Als Botschafter der europäischen Kultur in einem muslimischen Land. Mit dem pakistanischen Puppenspieler Shoaib Ur-Rehmann ist Gisela inzwischen verheiratet. Am Rand von Lahore hat er ein wunderbares Marionettenmuseum mit einer Freilichtbühne eingerichtet. Wer einmal wie ich diese überwältigende Theaterinitiative für Kinder erleben durfte, vergisst das nie. Gisela unterstützt diese Arbeit gerade in den heutigen schwierigen Zeiten, weil sie mit dem Theater „unbedingt Menschen etwas geben möchte, damit was anderes in ihrem Leben passiert.“
2003 wurde Gisela Pflugradt-Marteau von der Kulturministerin der Ukraine mit der „Goldenen Fortuna“ für besondere Leistungen in Kultur, Wissenschaft und Politik ausgezeichnet. Im selben Jahr erhielt sie die Europa-Medaille der EVD/ED-Fraktion im Europäischen Parlament. Im Dezember kann sie auf 40 Jahre Euro Theater Central zurückbli­cken: „Manches kommt wir vor, als sei es gerade gestern gewesen.“

Donnerstag, 08.12.2011

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