Martinu, Bohuslav (1890 - 1959)

kultur 87 - Juni 2012

Der tschechoslowakische Komponist wurde in Policka geboren. Seine musikalische Begabung äußerte sich sehr früh; als Siebenjähriger erhielt er bereits Violinunterricht. Durch die finanzielle Hilfe des Stadtrats siedelte Martinu im Herbst 1906 nach Prag über, um am Konservatorium zu studieren. In seinem zweiten Studienjahr lernte er dort Stanislav Novák kennen, den späteren Konzertmeister der Tschechischen Philharmonie. Mit ihm wohnte Martinu während des Studiums zusammen und sie verband eine lebenslange Freundschaft. Da er in Prag jeden Tag in die Oper, ins Konzert oder ins Theater ging und darüber hinaus Unmengen von Literatur „verschlang“, vernachlässigte Martinu bald das Violinspiel. Mit Beginn des Schuljahres 1909/10 wechselte er von der Violinklasse in die Orgel- und Kompositionsschule, wurde jedoch im Juni 1910 wegen „unverbesserlicher Nachlässigkeit“ vom Konservatorium verwiesen. Martinu stürzte sich nun in einen wahren Schaffensrausch: Es entstanden zwei umfangreiche Orchesterwerke, unzählige Lieder und Klavierstücke sowie Kammermusik.
Um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, meldete sich Martinu zur staatlichen Prüfung zum Violinunterricht, die er beim zweiten Versuch 1912 bestand. Ab 1913 spielte er zweitweise auch unter den zweiten Violinen in der Tschechischen Philharmonie. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs beendete seinen Aufenthalt in Prag. Ab September 1916 gab er in der Musikschule von Policka Violinunterricht und widmete sich sonst - neben der Lektüre von Literatur - der schöpferischen Arbeit. Seit diesem Jahr wandte sich der Komponist auch der heimatlichen Volksmusik zu, die er zuerst in den Arbeiten von B. Smetana kennengelernt hatte. Kompositorisch äußerte sich dieser Einfluss in der Tschechischen Rhapsodie aus dem Jahre 1918, deren Uraufführung im darauf folgenden Jahr seinen ersten großen Erfolg bedeutete.
1920 - 23 war Martinu ständiges Mitglied der Tschechischen Philharmonie als zweiter Geiger. 1923 ermöglichte ihm ein kleines Stipendium des Unterrichtsministeriums eine Reise nach Paris, wo er bis 1940 bleiben sollte. Hier meldete sich Martinu zum Unterricht bei Albert Roussel: Durch dieses etwa zweijährige, jeweils einmal im Monat stattfindende Studium gelang es Martinu endgültig seine eigene Tonsprache zu finden: „Was ich bei ihm suchte, war Ordnung, Klarheit, Maß, Geschmack, genauen, empfindsamen, unmittelbaren Ausdruck, kurzum: die Vorzüge der französischen Kunst, die ich stets bewundert habe und die ich wünschte, inniger kennenzulernen.“
Langsam aber stetig wuchs Martinus Erfolg: Seit 1927 interessierten sich mehrere Verlage für seine Kompositionen. In den Jahren 1927 – 29 wurden viele seiner Kompositionen vom Jazz beeinflusst, unter ihnen die Oper Voják a tanecnice (Der Soldat und die Tänzerin, 1926/27). Die Werke aus der zweiten Hälfte des Jahres 1929 tragen deutliche Spuren des Experimentierens; so wie beispielsweise die Phantasie für zwei Klaviere und das 3. Streichquartett. Seit 1930 nahm Martinu in seinen Werken wieder den Kontakt mit seiner Heimat auf. 1931 – 36 entstand die große volkstümlich-tschechische Bühnentrilogie Spalí?ek, Hry o Marii (Marienspiele) und Divadlo za bránou (Das Vorstadttheater). Für Spalícek erhielt Martin? den Preis der Tschechischen Akademie für Kunst und Wissenschaft sowie den Preis der Smetana-Stiftung und für die Marienspiele wurde ihm der Tschechische Staatspreis zuerkannt. Im Mai 1932 komponierte Martin? das Streichsextett und gewann damit den Wettbewerb um den amerikanischen Coolidge-Preis. Die Uraufführung seiner Oper Juliette 1938 in Prag war der letzte große Triumph in seiner Heimat, an dem Martinu noch persönlich teilnehmen konnte.
Bereits 1931 hatte Martinu die Französin Charlotte Quennehen geheiratet. Das Ehepaar floh im Juni 1940 aus Paris und konnte im März des darauffolgenden Jahres nach Amerika ausreisen. Hier wurde Martin? nach der Aufführung seines Concerto grosso (1937) im November 1941 unter der Leitung S. Koussewitzkys schlagartig berühmt. In der Sommerschule des Berkshire Music Center in Lennox (Mass.) gab Martinu 1942 seinen ersten Kompositionsunterricht in Amerika. Im selben Jahr entstand auch seine erste Sinfonie, der nun jährlich bis 1946 eine weitere folgen sollte. 1944 lernte Martin? Albert Einstein kennen, für den er die Five Madrigal Stanzas für Geige komponierte.
Im Sommer 1946 gab Martinu erneut einen Kompositionskurs in Great Barrington in der Nähe von Tanglewood. Dort erlitt er einen Unfall, bei dem er drei Meter in die Tiefe stürzte. Martinu hatte dadurch Gleichgewichtsstörungen und konnte monatelang seinen Kopf nicht beugen. Das Gehör des rechten Ohres blieb bis zu seinem Tod schwer beeinträchtigt. Jahrelang litt er unter summenden Geräuschen und Kopfschmerzen.
In den Jahren 1948/49 reisten die Martinus nach Europa. 1952 entstand das Rhapsody-Concerto für Bratsche und Orchester, das eine erste Wendung von der „Geometrie“ zur „Phantasie“ bezeugt (wie Martin? es selbst bezeichnete). Im selben Jahr erhielt der Komponist die amerikanische Staatsbürgerschaft. Jedoch verließ das Ehepaar 1953 die Neue Welt, um sich wieder in Europa niederzulassen. Für zwei Jahre wohnten die Martinus in Nizza, wo unter weiteren Hauptwerken das Oratorium Gilgamesch entstand. Nach einer erneuten Unterrichtstätigkeit in Amerika verließ Martinu 1956 das Land zum letzten Mal und lebte bis zu seinem Tod im Jahre 1958 hauptsächlich in der Schweiz. 1979 wurden seine sterblichen Überreste in das Familiengrab nach Poli?ka überführt.

Martinus Musiksprache neigt zu Klarheit und Fasslichkeit. Befragt nach den Quellen seiner Musik nannte Martinu die Volksmusik der Tschechoslowakei, das englische Madrigal der Renaissance und die Musik Claude Debussys. Der Musikschriftsteller Harry Halbreich (u.a.) fügt zu dieser Aufzählung noch das Concerto grosso der ­Barock­­zeit hinzu: Martinus reifes Instrumentalschaffen ist durch die freie Abwechslung von Soli und Tutti und das Einfügen von kleinen „Concertini“ gekennzeichnet, welche die Klangfarbe erhellen und für Gegensatzwirkungen sorgen.
Martinus insgesamt sechs Sinfonien nehmen im Gesamtschaffen eine dominierende Stellung ein. Zu einem besonderen Reiz des Klangbildes seiner ersten fünf Sinfonien trägt die Verwendung des Klaviers bei. Die thematische Dialektik der Klassik und Romantik ersetzt der Komponist in seinen Sinfonien durch die motivische Fortspinnung aus einem Urkeim. In der 6. Symphonie erhebt sich dieses Verfahren zu einer ständigen Metamorphosentechnik. E.H.

Lesetipp:
Harry Halbreich, Bohuslav Martin?, Atlantis.
Hörtipps:
- Complete Symphonies; Bamberg Symphony Orchestra, Neeme Järvi; Brillant.
- Jazz Balletts: Le Raid merveilleux, La Revue de Cuisine, On tourne!;
Czech Philharmonic Orchestra, Christopher Hogwood; Supraphon.
- Rhapsody for Viola, Concerto, Concertino, Lidice; Tabea Zimmermann, Trio Wanderer, Gürzenich Orchester Köln, James Conlon; Capriccio.

Donnerstag, 12.09.2013

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