Lutoslawski, Witold (1913 - 1994)

kultur 94 - März 2103

Der polnische Komponist und Dirigent wuchs zusammen mit zwei älteren Brüdern bei seiner Mutter Maria Olszewska auf. Lutoslawskis Vater wurde 1915 verhaftet und 1918 als „Konterrevolutionär“ in der Nähe von Moskau exekutiert. Maria Olszewska gehörte zu einer der wenigen Frauen, die an der Universität ein Studium absolvieren durften. Angeregt durch die hohe Musikkultur zuhause, erhielt Witold bereits früh Klavier- und Violinunterricht und schrieb mit neun Jahren seine erste Komposition. Nach dem Abitur besuchte er das Warschauer Konservatorium und nahm privaten Theorie- und Kompositionsunterricht. Für zwei Jahre studierte er Mathematik an der Warschauer Universität; seit 1931 studierte er Klavier, musikalische Formenlehre und Komposition am Warschauer Konservatorium. Sein Diplom im Fach Klavier erhielt er 1936, den Abschluss in Komposition im Jahr darauf.
Während des Zweiten Weltkriegs war Lutoslawski Leiter des Militärfunks im 1. Hauptquartier der polnischen Armee. Er geriet in deutsche Haft, konnte aber schon nach acht Tagen fliehen. Die Zeit der deutschen Okkupation verbrachte er als Klavierspieler in Warschau. Für Untergrundkämpfer komponierte Lutoslawski zahlreiche Widerstandslieder. Nach dem Krieg war Lutoslawski im Verband der polnischen Komponisten (ZKP) Sekretär und Schatzmeister, Vizepräsident, Vorstands- und Präsidiumsmitglied und außerdem zeitweise Vorsitzender der Aufnahmekommission.
Im ersten Jahrzehnt nach dem Krieg komponierte Lutoslawski viele Lieder für Kinder und Werke, in denen er polnische Folklore stilisierte, sowie unter dem Pseudonym „Derwid“ Unterhaltungsmusik. Nach dem Tode Stalins und mit den Reformen in Partei und Gesellschaft kam es zur Öffnung nach Westen, die einen Aufschwung der polnischen Neuen Musik mit sich brachte. Nach einer Phase des Übergangs wendete Lutoslawski in seinen Werken seit den 1960er Jahren die Serialität und eine neue Kompositionstechnik an, die er selbst als begrenzte oder kontrollierte Aleatorik (s.u.) bezeichnete.
Ab 1963 dirigierte der Komponist eigene Werke und unternahm zahlreiche Konzertreisen, die ihn in viele Länder Europas, nach Amerika, Kanada, Australien und Japan führten. In den 1960er und 70er Jahren gab Lutoslawski Kompositionskurse und hielt Vorlesungen zur zeitgenössischen Musik..
Bereits zu seinen Lebzeiten erhielt der Komponist große Anerkennung in Form von Ehrenmitgliedschaften, Preisen und Auszeichnungen. 1993 wurde er Mitglied des Ordens Pour le mérite, darüber hinaus erhielt er Ehrendoktorate an polnischen, englischen und amerikanischen Universitäten. Seit 1990 organisiert die Nationalphilharmonie in Warschau den Internationalen Witold-Lutoslawski-Wettbewerb für Komponisten.
Lutoslawskis Kompositionstechnik unterlag deutlich erkennbaren Wandlungen im Bereich der Harmonik, der Zeitorganisation, der Formgestaltung und der Melodik. Sein Œuvre lässt sich in drei Perioden einteilen: Bis ca. 1955 überwiegen in seiner Musik neoklassizistische und folkloristische Tendenzen – bis 1960 verwendete Lutoslawski neue harmonische Verfahren und originelle Tonreihen – die dritte Periode unterteilt sich nochmals in drei Etappen: 1960 – 68 verwendete Lutoslawski in seinen Werken die kontrollierte Aleatorik und eine neue Formkonzeption; 1969 – 79 verband der Komponist die kontrollierte Aleatorik mit einer neuartigen Auffassung von traditionellen Formen und Techniken; und seit den 1980er Jahren verringerte sich die Rolle der kontrollierten Aleatorik, die Harmonik wurde vereinfacht und die Melodik stand an erster Stelle.
Zur ersten Periode zählen u.a. das Konzert für Orchester, in dem Lutoslawski Volksmusik aus Masowien verwendete und die 1. Symphonie, in der sich der Komponist mit neoklassizistischen Techniken auseinandersetzte. In der zweiten Periode entstanden Werke wie Muzyka zalobna (Trauermusik, zum Gedenken an B. Bartók).
Zur dritten Periode zählen das Streichquartett, die 2. Symphonie oder das Violoncellokonzert. Die Werke der letzten Etappe beruhen auf einer deutlichen Wandlung in der Harmonik und einer besonderen Art der melodischen Gestaltung, wofür exemplarisch die 4. Symphonie genannt werden kann.
Lutoslawskis aleatorische Technik, die von ihm auch kontrollierte Aleatorik oder aleatorischer Kontrapunkt genannt wurde, besteht in einer Lo­ckerung der rhythmischen Beziehungen zwischen den Tönen. Der Komponist belegte rhythmische Werte in der Partitur mit einem Kommentar, wonach Instrumental- und Vokalpartien nicht in einem gemeinsamen Metrum gespielt/gesungen werden sollten, sondern ad libitum innerhalb eines festgelegten Zeitsegments. Nur ausnahmsweise ließ Lutoslawski auch andere Parameter eines Werkes unbestimmt, so in Trois poèmes d’Henri Michaux, wo die Tonhöhen in den Chorpartien nur ungefähr festgelegt sind und in Preludia i fuga, das der sogenannten offenen Form verwandt ist.
Seit den 1960er Jahren benutzte Lutoslawski ein zweiphasiges Formmodell, das in verschiedenen Abwandlungen für die meisten seiner Werke verbindlich wurde. Während die erste Phase aus einer Abfolge von locker gefügten Episoden und Refrains besteht, steuert die dicht angelegte zweite Phase auf den Höhepunkt des Werkes zu, dem sich meist noch ein Epilog anschließt.
Insgesamt unterlag Lutoslawskis Schaffen einer allmählichen Veränderung seines Ausdruckswillens. Dramatisch-konflikthaltige, zum Teil sogar aggressive Klanggestik entwickelte sich zu episch-kontemplativen, versöhnlich stimmenden Klangskulpturen. Lutoslawski äußerte 1981: ­„… es handelt sich um eine Aufgabe, die wir angehen müssen: eine neue Sprache zu finden, die auch Dinge auszudrücken vermag, die nicht nur beängstigend sind.“ E.H.

Hörtipps:
- Orchestral Works, Polish Radio National Symphony Orchestra, Witold Lutoslawski, Brillant Classics.
- Vocal Works, Lucy Crowe, Toby Spence, Christopher Purves, BBC Symphony Orchestra, Edward Gardner, Chandos.
- Preludes and Fugue for 13 solo strings, Three Postludes, Fanfares, Polish National Radio Symphony Orchestra, Antoni Wit, Naxos.

Dienstag, 01.10.2013

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