Janácek, Leos (1854 - 1928)

aus kultur Nr. 65 - 4/2010

„Sprachmelodien sind der Ausdruck des Gesamtzustandes des Organismus und aller Phasen der geistigen Tätigkeit, aus welcher sie hervorgehen. Sie zeigen uns den blöden und den vernünftigen Menschen, den schläfrigen und den geweckten, den müden und frischen. Sie zeigen uns das Kind und den Greis, Morgen und Abend, Licht und Finsternis, Sonnenglut und Frost, Einsamkeit und Geselligkeit. Die Kunst in der dramatischen Komposition ist, die Melodie der Sprache zu komponieren, hinter welcher wie durch einen Zauber sogleich das menschliche Wesen in einer gewissen Lebensphase erscheint.“
Der im nordostmährischen Dorf Hukvaldy als neuntes von 14 Kindern geborene Komponist wurde mit elf Jahren als Stipendiat an das Augus­tiner-Kloster in Alt-Brünn geschickt. Als Chorknabe erhielt er dort regelmäßig Musikunterricht in Gesang und Orgel. Sein Lehrer, Pavel Krízkovský, attestierte ihm eine „außerordentliche Begabung für die Musik, namentlich für die Orgel.“ Von 1866 bis ‘69 besuchte Janá?ek die deutschsprachige städtische Realschule in Brünn. Im Anschluss daran absolvierte er bis 1872 die slawische Lehrerbildungsanstalt in den Fächern Geschichte und Geographie. Nach einem nur einjährigen Studium an der Prager Orgelschule 1874/75 mit erfolgreicher Abschlussprüfung wurde Janácek in Brünn Musiklehrer für Gesang, Orgel und Klavierspiel. Kurze Studien an den Konservatorien in Leipzig und Wien 1879/80 rundeten seine musikalische Ausbildung ab.
In Brünn galt Janácek als Spiritus rector des Musiklebens: Er dirigierte Chorensembles, trat als Pianist auf, formierte ein Orchester mit dem er Konzerte veranstaltete, schrieb Kritiken und theoretische Werke über Musik (unter ihnen seine Vollständige Harmonielehre) und gründete die Musikzeitschrift Hudební listy (Musikalische Blätter) sowie die Brünner Orgelschule.
Seine ersten Kompositionen waren kleine Chorsätze, die seit 1870 für die von ihm geleiteten Chöre entstanden. Seit 1877 kamen Instrumentalwerke hinzu. Durch die Freundschaft mit Antonín Dvorák, dessen Werke er in den von ihm veranstalteten Konzerten aufführte, und die Eröffnung eines Musiktheaters in Brünn (1884) widmete sich Janácek auch dem Genre der Oper.
Zusammen mit dem Ethnographen, Dialektforscher und Volksgutexperten František Bartoš sammelte Janácek seit 1888 Volksmusik aus den Gebieten der Lachei, der Wallachei, des südlichen Schlesien und der mährisch-slowakischen Grenze. Von 1909-12 verwendeten Mitarbeiter dafür auch den Edison-Phonographen; heutzutage sind noch 75 dieser Walzen erhalten. Das Ergebnis dieser jahrelangen Forschungen dokumentieren insgesamt drei umfangreiche (teilweise erweiterte) Sammlungen, die zwischen 1890 und 1936 erschienen sind. Aufgrund dieser Beschäftigung entstanden Kompositionen wie die Walachischen und Mährischen Tänze (1898-91); am berühmtesten sind die Lachischen Tänze, die im Laufe vieler Jahre entstanden und 1927 veröffentlicht wurden.
Besonders wichtig war für Janácek seitdem die Melodie der gesprochenen Sprache. In Kompositionen seit 1897 verwendete er zunehmend sprachmelodisch geprägte Motive, die stetig wiederholt und variiert werden. Diese zumeist kurzgliedrigen Motive erfahren im Laufe der Komposition eine Intensivierung durch eine geschärfte Harmonik (jeder Akkord kann auf jeden folgen), eine asymmetrische Rhythmik und durch Ostinati. Kennzeichnend ist auch Janáceks eigenwillige Instrumentierung, in der die Klangfarben möglichst unvermischt erscheinen; zudem kontrastierte er häufig extrem hohe Streicher mit tiefen Bläsern. Durch diese Mittel entsteht eine „Polyphonie der Emotionen - man hört gleichzeitig eine wehmütige Melodie, darunter ein rasendes Ostinato-Motiv, darüber eine andere, an Schrei erinnernde Melodie“ (Milan Kundera). In der Kantate Amarus (1897) wird zum ers­ten Mal dieser neue, individuelle Stil hörbar.
Im Bereich der Oper verfolgte Janácek mit diesen Mitteln eine überzeugende, im Leben verwurzelte Bühnendramaturgie. Die Vielfalt seiner Opernthemen und deren emotionale Spannweite ist außergewöhnlich. Mit seiner dritten Oper Jenufa, die auch in Prag (1916) und Wien (1918) aufgeführt wurde, erlangte Janácek schließlich internationale Anerkennung. Zum Welterfolg dieser Oper trug die deutsche Übersetzung des Librettos von Max Brod bei.
Viele von Janáceks Kompositionen haben eine sozialkritische Komponente. Die Emanzipation der Frau spielt in den Opern Katja Kabanova (1919/21), Die Abenteuer der Füchsin Schlaukopf (1921/23) und Die Sache Makropulos (1923/25) eine wichtige Rolle. Die zweitgenannte Oper stellt ein Unikum ihres Genres dar, da sie hauptsächlich in der Tierwelt spielt. Janáceks letzte Oper, Aus einem Totenhaus (1927/28), verwendet die autobiographischen Aufzeichnungen Dostoevskijs aus einem sibirischen Straflager.
Die symphonische Dichtung Taras Bulba (1915/18) zählt heute zu den populärsten Instrumentalwerken des Komponisten. Auch die Kammermusikwerke Janá?eks, unter ihnen zwei Streichquartette, haben in neuerer Zeit wesentlich zum Ruhm des Komponisten beigetragen.
In den Jahren 1924, 25 und 27 nahm Janá?ek an den Musikfesten der IGNM (s.u.) teil. Als 70-jähriger war er ein weltweit anerkannter Komponist und wurde mit vielen Ehrungen und Feierlichkeiten bedacht.
Bei Aufführungen seiner Werke kam es - auch schon zu seinen Lebzeiten - immer wieder zu Veränderungen und Bearbeitungen des Originals, die durch Dirigenten, im Falle seiner letzten Oper auch von zwei Schülern Janáceks, vorgenommen wurden. Seit 1992 veröffentlicht die Universal Edition korrigierte Neufassungen seiner Werke, die der Dirigent Charles Mackerras und der Musikwissenschaftler John Tyrell erarbeiteten. Mackerras produzierte auch Maßstäbe setzende Einspielungen der wichtigsten Werke Janáceks. E.H.

Lesetipps:
- Meinhard Saremba, Leoš Janá?ek, Bärenreiter.
- Christoph Schwandt, Leoš Janá?ek, Schott.

Hörtipps:
- Jenufa, Sir Charles Mackerras, Wiener Philharmoniker, DECCA.
Klavierwerke, Rudolf Firkusny, Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, Rafael Kubelik, DG.
- Glagolithische Messe, Charles Mackerras, Tschechischer Philharmonischer Chor, Tschechische Philharmonie, Supraphon.

Samstag, 05.02.2011

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